Jan Wohlgemuth
Geschichte der deutschen Sprache
Seite 3/5


2. Thematische Längsschnitte vom (Indo)Germanischen zum Neuhochdeutschen

2.1 Lautgeschichte / Phonologie

2.1.1 Allgemein

Zweifellos sind die wesentlichsten Veränderungen in der Geschichte der deutschen Sprache lautlicher Natur. Die Lautverschiebungen, die zur Differenzierung der Dialekte führen genauso wie die Nebensilbenabschwächung, die großen Einfluß auf die gesamte Flexion hatte.

Diese Entwicklungen lassen sich grob in zwei Phasen unterteilen. In der ersten Phase, bis in die Zeit des Althochdeutschen hinein, war hauptsächlich der Konsonantismus Veränderungen unterworfen. Er festigte sich dann aber dauerhaft bis in unsere Zeit. In der zweiten Phase war dann das System der Vokalphoneme von den Umwälzungen betroffen, die teilweise (in einigen Dialekten) noch bis heute andauern.

2.1.2 Konsonantismus

2.1.2.1 Erste oder germanische Lautverschiebung

im System der Verschlußlaute:

a) [p, t, k] à [f, þ, c ] stimmloser Plosiv à stimmloser Frikativ
b) [b, d, g] à [p, t, k] stimmhafter Plosiv à stimmloser Plosiv
c) [bh, dh, gh]à [b, ð,g ] (<b d,g>) stimmhafter behauchter Plosiv à stimmhafter Frikativ

Beispiele: idg. *peku > ahd. fisk aber lat. piscis.

Diese Verschiebungen fanden nicht in sog. gedeckter Stellung statt, wenn entweder schon im Idg. dem zu verschiebenden Laut [s] vorausging (lat.: spuo, ahd.: spiwan) oder wenn im Idg. zwei Verschlußlaute aufeinanderfolgten (dann wurde nur der jeweils erste verschoben: lat.: noct, got.: naht).

Die stimmlosen Frikative wurden inlautend stimmhaft, wenn der Wortakzent im Idg. nicht auf dem Vokal davor lag: [s, f, Þ, c] à [b, ð,g, z] ([z] entsteht als neues Phonem). Diese Erscheinung wurde nach dem dän. Sprachwissenschaftler Karl Verner Vernersches Gesetz genannt. Grimm, der das Phänomen noch nicht erklären konnte, nannte es grammatischen Wechsel.

2.1.2.2 Westgermanische Konsonantengemination:

Verdopplung von Konsonanten vor [j], seltener [w, l, r]. bidjan (got) ~ bitten (ahd.); germ. *kunja > got. kuni / ahd. kunni (‚Sippe, Familie’)

2.1.2.3 Zweite oder althochdeutsche Lautverschiebung:

a) Tenuesverschiebung:

postvokalisch [p, t, k] à [ff, ss, hh (=x)] Plosiv à Doppelfrikativ
initial, vor Geminata, postkonsonantisch [p, t, k] à [pf, ts, kx] Plosiv à Affrikate

Keine Verschiebung bei [sp, st, sk, ft, ht, tr], z.B. opan > offan; watar > wazzar; tekan > zeihhan; plegan > pflegan; holta > holz; korna > kchorn

b) Medienverschiebung

[b, d, g], [b, ð,g ] > [p, t, k], [b, t, g] z.B. dag > tag

c) Wandel [þ] > [d]; germ. *broþar > as. brothar / ahd. bruoder

2.1.2.4 Ersetzung der sonantischen Liquide und Nasale:

idg. [l, r, n, m8 ] wurden zu germ. [ul, ur, un, um]. (*plno’voll’ > got. fulls).

 

2.1.2.5 Nasalschwund mit Ersatzdehnung:

germ. *Þanhto > da:hta (‘dachte’); *Þunhto > du:hta (‘dünkte’), *sinh- > si:han (‘seihen').

2.1.2.6 Palatalisierung von [s] > [ò ] / _K

a) mit Wegfall von K [sk] > [ò] (<sk> > <sch>) scriban > schriben
b) ohne Wegfall von K [sl] > [òl] (<sl> > <sch>) slange > schlange
[sm] > [òm] (<sm> > <schm>) smal > schmal
[sn] > [òn] (<sn> > <schn>) snel > schnell
[sw] > [òw] (<sw> > <schw>) geswinde > geschwinde
[sp] > [òp] (<sp> bleibt <sp>) spil
[st] > [òt] (<st> bleibt <st>) stellen

2.1.2.7 Auslautverhärtung:

Auslautende [b,d,g] werden zu [p,t,k] (Fortes > Lenes; [+sth.] > [-sth.]). Im mhd. spiegelt sich das in der Schrift wieder, diese Konsequenz läßt die gegenwärtige Orthographie leider vermissen.

2.1.3 Vokalismus

2.1.3.1 Monophthongierung von germ. ai und ou:

[ai] > [e:] vor [r, h, w]; [ou] > [o:] vor Dentalen [d, t, s, z, n, r, l] und germ. [h] daher ahd. ouga, ora aber got. augo, auso; dadurch entsteht ein zweites [e:] und [o:], das jeweils dem alten germ. [e:] bzw. [o:] im Phonemsystem entgegen steht. Deshalb:

2.1.3.2 Diphthongierung von germ. [e:] und [o:]:

[e:] > [ie], [o:] > [uo]; z.B. got./as. her, ahd. hier/hiar; as. brothar / ahd. bruoder

2.1.3.3 Zusammenfall von Vokalen:

die Kurzvokale [a,o,e] fallen zusammen zu [e]; die Langvokale [a:, o:] fallen zusammen in [o:]; [ei] < [i:]

2.1.3.4 i-Umlaut:

[i, i:, j] in der Folgesilbe bedingen folgende Lautveränderungen:

a > e (ä) (gast - gesti)
a: > æ (ahd. mâri mhd. mære 'Erzählung')
u > ü (ahd. kussen mhd. küssen)
u: > iu [y:] (ahd. hlûten mhd. liuten 'läuten')
o: > œ [œ:] (ahd. skôni mhd. schœne )
ou > öu (ahd. loufit mhd. löufet)
uo > üe (ahd. guoti mhd. güete)

Hier zeigen sich zwei unterschiedliche Schichten des Umlauts. Der erste Typ, der sog. Primärumlaut, in a > e, der sich auch in der ahd. Orthographie niederschlägt, und den anderen, (Sekundärumlaut) der erst in der mhd. Schreibung Eingang findet. Dies legt nahe, daß die Umlauterscheinungen zeitlich gestaffelt eintraten. Solange die Bedeutungsunterscheidung noch durch die Endsilben gewährleistet war, konnten daher Formen wie sconi (gesprochen scœni) und scono noch gleich mit <o> geschrieben werden. (Im mhd. ändert sich das durch die Endsilbenabschwächung...)

2.1.3.5 Kombinatorischer Lautwandel im gesamten Westgerm.: (sog. Brechung)

germ. e > i vor i,j,u, Nasal+Konsonant
germ. i > e vor i,j,u, Nasal+Konsonant
germ. u, idg. [l, r, n, m] und germ. [ul, ur, un, um] > o vor a,e,o
germ. eu > io vor a,e,o; iu vor i,j,u
Das zeigt sich im ahd. Flexionssystem: z.B. nimu, nimis aber nement (nehme, nimmst, sie nehmen)

2.1.3.6 Monophthongierung

der Diphthonge ie, uo, üe > i, u, ü (liebe guote brüeder > liebe gute Brüder)

2.1.3.7 Diphthongierung

der Langvokale î, ü [y:], û > ei, eu, au (mîn niuwes hûs > mein neues Haus)

2.1.3.8 Senkung

a) der hohen Vokale: sunne > günnen > gönnen, hüle > Höhle, Sonne, sun > Sohn

b) der Diphthonge ei, öu, ou: /ei/ > /ai/, /öu/ > /eu/, /ou/ > /au/; weinen > weinen, fröude > Freude, boum > Baum

2.1.3.9 Hebung

der tiefen Vokale: mâne > Mond, âne > ohne

2.1.3.10 Rundung

zwelf > zwölf, lewe > Löwe, finf > fünf,

2.1.3.11 Entrundung

küssen > Kissen, nörz > Nerz

2.1.3.12 Kürzung

von Langvokalen in geschlossener Silbe: hêrlih > herrlich, brâhte > brachte

2.1.3.13 Dehnung

von Kurzvokalen in offener Silbe: geben > geben, bote > Bote, klagen > klagen

2.1.3.14 Anmerkung zu den Nhd. Entwicklungen

Die Erscheinungen der Rundung, Entrundung, Hebung und Senkung der Monophthonge sind dabei nicht systematisch vorgegangen.

2.2 Morphologie

2.2.1 Verben

2.2.1.1. Starke vs. schwache Konjugation

Der neuhochdeutsche Gesamtwortschatz wird mit ca. 500.000 bis 600.000 Wörtern beziffert, von dem etwa 25% Verben sind. Diese teilen sich auf in zwei Klassen, die starken Verben, die in ihrer Konjugation einen systematischen Vokalwechsel (sog. Ablaut) im Grundmorphem (Stamm) haben, und die schwachen Verben ohne systematischen Vokalwechsel. Der Anteil der starken Verben ist dabei durchweg der Ältere. Zu den etwa 180 Formen treten keine neuen mehr hinzu, das System ist abgeschlossen. Neu entstehende Verben haben also immer eine schwache Flexion (Merkmal: Dentalsuffix (aus enklitischem -tat) im Präteritum).

Der systematische Lautwechsel im Präsens der starken Flexion ist unterscheidbar nach sieben Hauptklassen, er hat jedoch keine grammatische Funktion mehr, wie der idg. Ablaut:

1. a à e
2. a: à ä:
3. o à ö
4. au à äu
5. e à i
6.a e: à i:
6.b e: à i
7 ö à i

2.2.1.2. Ablautreihen:

Unter Ablaut versteht man den regelmäßigen Wechsel von Vokalen in etymologisch zusammengehörigen Wörtern oder Wortteilen; im engeren Sinne nur im Indogermanischen.

Zum Vergleich zwei althochdeutsche Ablautreihen:
1. biotan, biutu, bôt, butun, gibotan bzw.
2. grîfan, grîfu, greif, grifun, gigriffan Zur besseren Darstellung reduziere ich auf die ausschlaggebenden Vokale:
1. io, iu, ô, u, o
2. î, î, ei, i, i

Diese Vokale führen wir nun auf ihre idg. Ursprünge zurück:
1. io/iu < eu; ô < ou; u/o < u;
2. î < ei; ei < oi; i < i
Dabei stellt sich heraus, daß im idg. die Ablautreihen so aussahen
1. eu, eu, ou, u, u à eu-ou-u
2. ei, ei, oi, i, i à ei-oi-i

Also wechselt im idg. nur der erste Bestandteil des Diphthongs: e-o-Ø
Es handelt sich um einen (qualitativen) Ablaut auf der mittleren Ebene des Vokaldreiecks:

   i          u
     e     o
        a

Hier ist also die eigentliche Regelmäßigkeit des Ablauts zu finden, die durch die lautlichen Entwicklungen verschleiert bzw. verwischt wurde.
Es gibt noch andere Ablautvarianten (â-ô-Ablaut, qualitaviver e-ê-Ablaut), auf die ich aber hier nicht eingehen möchte.

2.2.1.3. analytische Tempora

Im Germanischen gibt es keine analytischen Tempora. Die Einführung und Verwendung dieser Zeiten wird zurückgeführt auf den Versuch, die deutsche Grammatik mit den Mitteln der lateinischen Grammatik analog zu beschreiben, nachdem die synthetischen Tempora teilweise bereits im Germanischen, sonst durch den Formenzerfall (wegen der Abschwächung der Nebensilbenvokale) verfielen.

2.2.1.4. Flexion

Durch die verschiedenen lautlichen Entwicklungen, insbesondere durch die Abschwächung der Nebensilben kam es zu einem starken Verfall der Flexionsparadigmen, vor allem im Konjunktiv.

2.2.2 Substantive

2.2.2.1 Vorbemerkung

Wie schon in der Adjektiv- und in der Verbflexion gezeigt, hatte die Entwicklung des Lautsystems Einfluß auf die Flexion. Im Germanischen war jeder Kasus durch ein eigenes Relationsmorphem eindeutig gekennzeichnet:
dag-a-z (Nom.Sg.), dag-a-ns (Akk. Pl.)

gast-i-z (Nom.Sg.), gast-i-ns (Akk.Pl.)
dabei sind {dag, gast} Grundmorpheme (Wurzeln), {-i-, -a-} Formationsmorpheme (Stammbildungeselemente) und {-z, -ns} Relationsmorpheme (Flexionselemente).

Die Substantive wurden anhand der Stammbildungselemente in Klassen eingeteilt, nämlich die "schwache", -n-Klasse und die "starken", Klassen mit -a-, -i- und andereren Vokalen.

2.2.2.2 Deklinationsparadigmen im Althochdeutschen

Klasse

Maskulinum

Neutrum

Femininum

Singular

Plural

Singular

Plural

Singular

Plural

1 -n

der boto des boten
demo boten
den boton
dia boton
dero botôno
dêm botôm
dia boton
daz herza
des herzen
demo herzen
diu herzen
dero herzôno
dêm herzôm
diu herzun
diu zunga
dera zungûn
deru zungûn
dia zungûn
dio zungûn
dero zungôno
dêm zungôm
dio zungûn
2 -ô         diu geba
dera geba
deru gebu
dia geba
dio gebâ
dero gebôno
dêm gebôm
dio gebâ

3 -a

der tag
des tages
demo tage
den tag

dia taga
dero tago
dêm tagum
dia taga

daz wort
des wortes
demo worte
daz wort
diu wort
dero worto
dêm wortum
diu wort
   
4 -i der gast
des gastes
demo gaste
den gast
dia gesti
dero gestio
dêm gestim
dia gesti
    diu kraft
dera krefti
deru krefti
dia kraft

dio krefti
dero kreftio
dêm kreftim
dio krefti

 

Hier zeigt sich, daß die Akzentfestlegung auf den Wortanfang bereits für eine Verwischung und Vereinfachung sowie einen Wegfall einzelner Formen gesorgt hat; der Artikel, der hier dazugesetzt ist, brauchte im ahd. nicht verwendet zu werden, so daß eine isolierte Form nicht immer eindeutig einem Kasus zugeordnet werden kann. Dennoch ist die Kasuskennzeichnung relativ gut erkennbar, wohingegen eindeutige Numerus- und Genuskennzeichnung nicht vorhanden sind.

Es traten mehrere Sonderklassen auf, von denen eine für die weitere Entwicklung besonders wichtig wurde:

Neutrum

Singular

Plural

daz lamb
des lambes
demo lambe
daz lamb
diu lembir
dero lembiro
dêm lembirum
diu lembir

-ir- ist ein Stammbildungselement, das im Singular weggefallen ist. Es löst im Pl. den Umlaut aus, und wird so später Vorbild für eine neue Art der Pluralbildung. Umlaut + (abgeschwächtes) -er wird im mhd. zu einem neuen Pluralkennzeichen in Wörtern, die zuvor keinen Umlaut hatten (nhd. Sg - Pl. Wort - Wörter, Wald - Wälder).

2.2.2.3 Deklinationsparadigmen im Mittelhochdeutschen

Klasse

Maskulinum

Neutrum

Femininum

Singular

Plural

Singular

Plural

Singular

Plural

1 der bote
des boten
dem boten
den boten
die boten
der boten
den boten
die boten
daz herze
des herzen
dem herzen
daz herze
diu herzen
der herzen
den herzen
diu herzen
diu zunge
der zungen
der zungen
die zunge
die zungen
der zungen
den zungen
die zungen
2         diu gebe
der gebe
der gebe
die gebe
die gebe
der geben
den geben
die gebe
3 der tac
des tages
dem tage
den tac
die tage
der tage
den tagen
die tage
daz wort
des wortes
dem worte
daz wort
diu wort
der worte
den worten
diu wort
diu zît
der zîte
der zîte
die zît
die zîte
der zîte
den zîten
die zîte
4 der gast
des gastes
dem gaste
den gast
die geste
der geste
den gesten
die geste
daz blat
des blates
dem blate
daz blat
diu bleter
der bleter
den bletern
diu bleter
diu kraft
der kraft/krefte
der kraft/krefte
die kraft
die krefte
der krefte
den kreften
die krefte

Es zeigt sich hier die Fortsetzung der bereits im ahd. begonnenen Entwicklung. Oft gibt es nur noch zwei Wortformen, so daß der Kasus nicht mehr am Wort selbst feststellbar ist. In der 1. Klasse bildet sich ein Einheitsplural, in dem alle Formen gleich sind, in der 2. Klasse ein Einheitssingular, der im Femininum der 4. Klasse zunächst ansatzweise, später vollständig entsteht, so daß hier der Umlaut nur noch im Plural auftritt. Die o.a. Sonderklasse

Neutrum

Singular

Plural

daz lamb
des lambes
dem lambe
daz lamb
diu lember
der lembere
den lemberen
diu lember

zeigt die bereits angesprochene Entwicklung ebenfalls. Durch diese wird der Umlaut volksetymologisch zum Pluralkennzeichen gemacht und dringt mit analogen Bildungen in andere Paradigmen ein.

Insgesamt ist also eine genauere Numeruskennzeichnung zu lasten einer immer weiter verwischten Kasuskennzeichnung eingetreten; eine Entwicklung, die sich zum Neuhochdeutschen hin fortsetzt, wobei Einheitssingular im Femininum und (unvollständiger) Einheitsplural in allen Genera analog auf die anderen Klassen übertragen wurden.

Diese Vereinfachung der Formenvielfalt durch den Endsilbenverfall hatte zur Folge, daß die Kasuskennzeichnung vom Substantiv weg auf das Adjektiv und den Artikel verlagert wurde.

2.2.3 Adjektive

2.2.3.1 Vorbemerkung

Adjektive haben drei grammatischer Kategorien, die an ihnen ausgedrückt werden: Kasus, Numerus, Genus. Wenn man sich aber das Flexionsparadigma der ahd. Adjektive ansieht, so gibt es für jede der 24 Positionen zwei Formen, eine sogenannte nominale (schwache) und eine pronominale (starke) Form. Die zwei Formen waren schon im Germanischen vorhanden und hatten die Funktion, die heute durch die Artikel wahrgenommen wird. Eine nominale Form war individualisierend, eine pronominale Form generalisierend. Z.B. ahd.: kilaubu in kot fater almahticun '...den allmächtigen' versus in hohan berg '(irgend)einen hohen Berg' oder nioman sentit niowan wîn in alte belgi 'niemand füllt jungen Wein in alte Schläuche'.

2.2.3.2 Althochdeutsche Adjektivendungen

  Maskulinum Neutrum Femininum
  nominal pronominal nominal pronominal nominal pronominal
Nom. Sg.
Gen.
Dat.
Akk.
-o
-en
-en
-on
-êr
-es
-emo
-an
-a
-en
-en
-a
-az
-es
-emo
-az
-a
-ûn
-ûn
-ûn
-iu
-era
-eru
-a
Nom. Pl.
Gen.
Dat.
Akk.
-on
-ôno
-ôm
-on
-e
-ero
-êm
-e
-un
-ôno
-ôm
-un
-iu
-ero
-êm
-iu
-ûn
-ôno
-ôm
-ûn
-o
-ero
-êm
-o

 

Wie die Tabelle zeigt, wirkte sich auch hier die Abschwächung der Nebensilben auf die Morphologie aus: Formen wurden uneindeutig oder fielen zusammen. Um die alte Unterscheidung individuell / generell weiter ausdrücken zu können, mußten nun Umschreibungen mit Demonstrativpronomen (indiv.) bzw. Zahlwort ein (gener.) verwendet werden. Daraus entstanden später die Artikel.

2.2.3.3 Mittelhochdeutsche Adjektivendungen

  Maskulinum Neutrum Femininum
  nominal pronominal nominal pronominal nominal pronominal
Nom. Sg.
Gen.
Dat.
Akk.
-e
-en
-en
-en
-er
-es
-em
-en
-e
-en
-en
-e
-ez
-es
-em
-ez
-e
-en
-en
-en
-iu
-er
-er
-e
Nom. Pl.
Gen.
Dat.
Akk.
-en
-en
-en
-en
-e
-er
-en
-e
-en
-en
-en
-en
-iu
-er
-en
-iu
-en
-en
-en
-en
-e
-er
-en
-e

 

Die Entwicklung des Zusammenfalls setzt sich im Mhd. fort und führt zu einem Verlust der Eindeutigkeit. Die Trennung stark / schwach ist nicht mehr durchgängig vorhanden. Deshalb verliert sie auch ihre Funktion. Die verschiedenen Formen werden jetzt formal verwendet:

nach bestimmtem Artikel: nominale Form
nach unbestimmtem Artikel: pronominale Form
ohne Artikel: pronominale Form

2.2.3.4 Neuhochdeutsche Adjektivendungen

  Maskulinum Neutrum Femininum
  nominal pronominal nominal pronominal nominal pronominal
Nom. Sg.
Gen.
Dat.
Akk.
-e
-en
-en
-en
-er
-en
-em
-en
-e
-en
-en
-es
-es
-en
-em
-es
-e
-en
-en
-e
-e
-er
-er
-e
Nom. Pl.
Gen.
Dat.
Akk.
-en
-en
-en
-en
-e
-er
-en
-e
-en
-en
-en
-en
-e
-er
-en
-e
-en
-en
-en
-en
-e
-er
-en
-e

 

Die inzwischen eigentlich überflüssigen (da ihrer ursprünglichen Funktion beraubten) starken Formen sind im Nhd. immer noch vorhanden. Sie haben eine neue Funktion übernommen: sie sind Kasuskennzeichen, wenn der Kasus nicht eindeutig durch Substantiv, Artikel oder Pronomen gekennzeichnet ist. Ist der Kasus bereits eindeutig gekennzeichnet, wird die schwache Form verwandt:

der frische Wein
ein frischer Wein
dem frischen Weine
einem frischen Weine
frischem Weine

Auf diese Weise ergänzen sich die Endungen der Substantive und Adjektive nahezu vollständig, so daß eine eindeutige Kennzeichnung des Kasus in den meisten Fällen gewährleistet ist.

2.3 Syntax

2.3.1 Generelle Entwicklung

In der Entwicklung der Syntax der deutschen Sprache sind zwei Haupterscheinungen festzustellen. Zum einen wird der synthetische Satzbau mehr und mehr vom zum analytischen Satzbau verdrängt, Artikel, Personalpronomina, Hilfs- und Modalverbkonstruktionen u.ä. treten hinzu.

Gleichzeitig bewirkt der Verfall der Flexionssysteme (insbesondere der Kasusverfall) eine rigidere Satzstellung. Satzglieder, die zuvor an jeder Position stehen konnten, sind nun auf bestimmte Positionen festgelegt. Dies soll an zwei Beispielen gezeigt werden:

2.3.2 Stellung des finiten Verbs

In den älteren Sprachstufen war die Satzstellung nicht so festgelegt wie im Neuhochdeutschen. So konnte das finite Verb an jeder Position stehen:

ahd.: quam thô wîb sceffen wazzar
thô ther heilant waz gileitit in wuostina
after thrin tagun fundun inan
thio tumbûm thên spâhôn quadun

Das ist im Neuhochdeutschen nicht mehr so. Die Festlegung auf die 2. Stelle (Mit Ausnahmen in lyrischer Sprache, Fragesätzen, Imperativsätzen, Wunschsätzen) fällt zeitlich zusammen mit der Entstehung der analytischen Tempora.

Zugleich gibt es seit dem Anfang des Nhd. die Tendenz, einen prädikativen Satzrahmen (Neuhochdeutsche Satzklammer) zu bilden, also die finite und die infinite Verbform in eine Distanzstellung zu bringen: So wird das Prädikat um weite Teile des Satzes herum aufgeteilt.

 

2.3.3 Stellung des Attributs

Auch die Stellung des Attributs hat sich verändert. Konnte es in den älteren Sprachstufen sowohl voran- als auch nachgestellt werden, so ist im Nhd. nur eine Voranstellung zulässig:

mhd.: er tranc einen trunc also starc
nhd.: er trank einen so starken Trunk

2.4 Lexikon

2.4.1 Bedeutungswandel

Nicht nur die Form der sprachlichen Zeichen, auch deren Inhaltsseite, bzw. ihre Bedeutung, kann sich im Laufe der Zeit verändern. Bedeutung ist hier als die Denkbedeutung zu verstehen, die von der kategoriellen Bedeutung ('Tun', 'Ding', 'Eigenschaft') zu trennen ist. Bedeutungswandel kann eintreten, wenn sich die außersprachlichen Sachverhalte ändern. Dies kann nach verschiedenen Prinzipien geschehen:

  • Logisches Prinzip
    a) Spezialisierung (mehr relevante Merkmale) z.B. ahd. wurm 'alles was kriecht' > Wurm
    b) Erweiterung (weniger relevante Merkmale) z.B. germ. *þenga- > nhd. Ding
    c) graduell gleichwertig (andere relevante Merkmale, z.B. bei Ironie, Metonymie, Bahuvrihi)
  • Axiologisches Prinzip (Verschiebung von Wertgesichtspunkten), wie beispielsweise bei wîp'Frau' > Weib'schlechte Frau' (bzw. im ganzen Wortfeld: Dame, Frau, Weib, etc.), oder Minister / Magister
Der Bedeutungswandel kann dabei die urspüngliche Bedeutung teilweise (partieller Bw.) verändern, etwa wie bei wîp > Weib, oder eine völlig neue Bedeutung schafften (totaler Bw.), wie bei ahd. bald 'kühn, tapfer' (Adj.) >nhd. bald 'zeitl. Nähe' (Adv.).

2.4.2 Wortschatz

Sprachlicher Wandel im Bereich des Lexikons ist aber auch auf andere Weise möglich. So bereichern auf der einen Seite Neuschöpfungen, Lehnwörter und Fremdwörter den Wortschatz (z.B. Blauhelm, Wolkenkratzer, Laser), auf der anderen Seite werden Wörter oder Wortverwendungen ungebräuchlich und fallen aus dem Wortschatz heraus (z.B. minne).

[zurück] | [Index] | [weiter]



Made 1998 by Jan Wohlgemuth.
Some rights reserved.
Version 1
Zuletzt geändert: 18. April 1998
Erstmals erstellt: 18. April 1998


[www.linguist.de] | [index.htm]