Philipp Overberg

Merkmalssemantik vs. Prototypensemantik

Anspruch und Leistung zweier Grundkonzepte

der lexikalischen Semantik

Vorbemerkung

Der folgende Text ist eine leichte Überarbeitung meiner am 01.02.1999 in Münster eingereichten Magisterarbeit. Die HTML-Version stellt einige wenige Sonderzeichen und Formatierungen nicht ordentlich dar. Ich bitte um Nachsicht.

Für Fragen, Kritik und Anregungen bin ich empfänglich: overberg@textklinik.de

Viel Vergnügen. Und laßt Euch nicht verrückt machen.

Ph. O. — Düsseldorf, 08.12.1999




Inhalt

1 Einleitung

2 Gegenstände

2.1 Merkmalssemantik

2.1.1 Strukturalistische Semantik

2.1.1.1 Europäische strukturelle Semantik

2.1.1.2 Amerikanische strukturelle Semantik

2.1.2 Lexikalische Semantik und generative Transformationsgrammatik

2.1.3 Merkmalsreduktionismus

2.2 Prototypensemantik

2.2.1 Die "Standardversion" der Prototypensemantik

2.2.1.1 Ansätze

2.2.1.2 Zusammenfassung

2.2.2 Die "erweiterte Version" der Prototypensemantik

2.2.2.1 Ansätze

2.2.2.2 Zusammenfassung und Kritik

3 Vergleich

3.1 ‚Merkmalssemantik‘ vs. ‚Prototypensemantik‘

3.1.1 ‚Merkmalssemantik‘

3.1.2 ‚Prototypensemantik‘

3.1.2.1 Exkurs: ‚Autoprototypizität‘

3.1.3 "Hybrid theories"

3.2 Schematischer Vergleich

3.3 Merkmale

3.4 Kategorien und Kategorisierungen

3.4.1 Graduelle Kategorienzugehörigkeit und vage Kategorienbegrenzung

4 Diskussion

4.1 Tradition, Fortschritt und die "Roschian revolution"

4.2 Zirkuläre Bedeutungsbestimmungen

4.3 Anwendungsbereiche

4.4 Zusammenfassung: Anspruch und Leistung zweier Grundkonzepte der lexikalischen Semantik

5 Literaturverzeichnis

6 Endnoten

Be it known that, waiving all argument, I take the good old fashioned ground that the whale is a fish, and call upon holy Jonah to back me.

 

1 Einleitung

Der Wal ist zweifelsohne ein Fisch. Von 442 Teilnehmern eines psychologischen Experiments [1], die gebeten worden waren, innerhalb von 30 Sekunden so viele Fische zu nennen, wie ihnen einfielen, nannten 78 auch den Wal. Neun Probanden fiel er sogar als erstes ein. Fast doppelt so viele Leute (142) nannten den Lachs, an Sardinen dachten hingegen nur 18 der Probanden. Der Häufigkeit der Nennungen nach brachte es der Wal unter den Fischen immerhin auf den zwölften von 47 Plätzen.

In der Biologie herrscht dagegen ein anderes Verständnis: ‚Den‘ Wal gibt es gar nicht. Es gibt lediglich die Ordnung der Wale, die sich in die Unterordnungen der Bartenwale und Zahnwale gliedert, und diese zerfällt wiederum in weitere Familien, Gattungen und Arten. Die Wale gehören aber zur Klasse der Säugetiere, die sich durch Fortpflanzung, Sozialverhalten und weitere Merkmale wie Körpertemperatur, Anzahl der Halswirbel, Blutkreislauf, Atmung usw. von den Fischen unterscheidet.

Die Probanden haben aber bei der Nennung des Wals in der Kategorie Fisch offenbar nicht über die Fortpflanzung und sonstigen Merkmale der Wale nachgedacht, sondern über die globale Ähnlichkeit des Wals mit anderen Fischen. Ein Wal lebt im Wasser und hat Flossen. Ein typischer Fisch ist z. B. die Forelle, die in dem oben erwähnten Experiment am häufigsten genannt wurde. Ein Wal ist einer Forelle zwar nicht besonders ähnlich (er fällt sowohl hinsichtlich seiner Proportionen als auch seiner absoluten Größe aus dem Rahmen) aber er ist einer Forelle global viel ähnlicher als einem typischen Säugetier (z. B. einer Kuh), obwohl er — zumindest aus biologischer Sicht — die entscheidenden Merkmale eines Säugetiers aufweist.

Die beiden unterschiedlichen Herangehensweisen an die Frage, ob der Wal ein Fisch ist oder nicht, ähneln zwei konkurrierenden Methoden der lexikalischen Semantik, also derjenigen sprachwissenschaftlichen Disziplin, welche die Bedeutungen von lexikalischen Einheiten [2] (Wörtern) bestimmt und beschreibt. Die Merkmalssemantik faßt Bedeutungen als Bündel von definitorischen Merkmalen auf: Die Bedeutung des Worts Stuhl wird in die Merkmale ‘Sitzmöbel’, ‘für eine Person’, ‘ohne Armlehne’ und ‘mit Rückenlehne’ zerlegt. [3] Die Prototypensemantik hingegen bestimmt den typischen Vertreter einer Kategorie und beurteilt die globale Ähnlichkeit mit diesem ‚Prototyp‘: Das Rotkehlchen ist ein typischer Vogel, es steht im Zentrum der Kategorie VOGEL, während z. B. ein Strauß, der nicht alle (definitorischen) Merkmale mit dem Rotkehlchen gemeinsam hat, eher im Randbereich der Kategorie anzusiedeln ist. [4]

Die Merkmalssemantik ist das ältere und etabliertere Grundkonzept der lexikalischen Semantik, während die Prototypensemantik als Gegenentwurf zur Merkmalssemantik gedacht ist. Die vorliegende Arbeit hat das Ziel, den Konflikt zwischen den beiden Konzepten zu untersuchen. Ein Vergleich (Kap. 3) soll zeigen, was die Prototypensemantik tatsächlich von der Merkmalssemantik unterscheidet. Gegenstände dieses Vergleichs sind Zusammenfassungen der wichtigsten Beiträge zu den Grundkonzepten (Kap. 2). Die Zusammenfassung der Merkmalssemantik konzentriert sich auf die Darstellung der wesentlichen von der Prototypensemantik kritisierten Punkte, die Zerlegung in Bedeutungskomponenten und konkrete Beispielanalysen. Die Darstellung der Ansätze aus dem Bereich der Prototypensemantik konzentriert sich darauf, zu zeigen, welche alternativen Herangehensweisen an das Problem der Bedeutungsbestimmung die Prototypensemantik der traditionellen Methode entgegenzusetzen hat.

Die Darstellung der Merkmalssemantik soll gewissermaßen den Hintergrund für die Beantwortung der Frage liefern, welche Neuerungen die Prototypensemantik eigentlich in die lexikalische Semantik eingeführt hat. Daher erfolgt die Behandlung der Ansätze aus dem Bereich der Prototypensemantik bisweilen etwas ausführlicher.

Der Vergleich der beiden Konzeptionen soll nicht nur die allgemein bekannten Unterschiede herausarbeiten, sondern auch genauer untersuchen, ob nicht vielmehr auch grundlegende Gemeinsamkeiten zwischen Merkmalssemantik und Prototypensemantik bestehen. Es soll gezeigt werden, daß beide Theorien zur Bedeutungsbestimmung auf Merkmale angewiesen sind und daß die Bedeutungsbestimmung in beiden Theorien auf einer relationalen Grundlage erfolgt, das heißt, daß Beziehungen zwischen ‚benachbarten‘ lexikalischen Einheiten die Grundlage für die Bedeutungsbestimmung sind.

In Kapitel 4 wird diskutiert, ob die Ergebnisse dieses Vergleichs es weiterhin rechtfertigen, die Prototypensemantik als Alternative zur Merkmalssemantik anzusehen, oder ob nicht vielmehr beide Methoden nebeneinander ihre Berechtigung haben.

 

Kurze Zitate im laufenden Text sowie übernommene Termini sind durch "doppelte Anführungszeichen" ausgezeichnet. ‚Einfache Anführungszeichen‘ markieren uneigentlichen Sprachgebrauch. Bedeutungsangaben stehen in ‘einfachen Apostrophhaken’. Objektsprachliche Ausdrücke sind kursiv ausgezeichnet. VERSALIEN kennzeichnen die Namen von Kategorien.

Wird von diesen Prinzipien abgewichen, so folgt die Darstellung den Konventionen eines besprochenen Werks. Diese werden nur erläutert, sofern sie für die Argumentation der vorliegenden Arbeit von Belang sind und sich ihre Bedeutung nicht selbst erklärt. Ebenso werden besondere Notationssysteme in Zitaten und graphischen Darstellungen, wie z. B. Zeichen aus dem Bereich der Logik oder der Mengenlehre, lediglich der Treue zum Original wegen übernommen und nur dann erläutert, wenn das Verständnis der dadurch repräsentierten Formalismen für das Verständnis der Argumentation unverzichtbar ist.

Übernommene graphische Darstellungen orientieren sich hinsichtlich graphischer Gestaltung und typographischer Konventionen so nah an der jeweiligen Vorlage wie technisch möglich.

He loved to dust his old grammars; it somehow mildly reminded him of his mortality.

 

2 Gegenstände

2.1 Merkmalssemantik

Die folgenden Ausführungen erheben weder den Anspruch, die verschiedenen wissenschaftlichen Traditionen im Bereich der Merkmalssemantik erschöpfend zu behandeln, noch eine umfassende Darstellung der semantischen Theorien der einzelnen Autoren zu liefern. Es werden jeweils nur exemplarisch einige derjenigen Autoren besprochen, welche die Diskussion entscheidend geprägt haben. Die Darstellung ihrer Ansätze beschränkt sich auf die Kernprobleme, die im weiteren Verlauf dieser Arbeit für den Vergleich mit den Grundthesen der Prototypensemantik relevant sind. Es handelt sich dabei im einzelnen um die Fragen nach dem Wesen der semantischen Merkmale, nach ihrem Stellenwert in den einzelnen Arbeiten und nach dem Verhältnis der semantischen Beschreibung einzelner lexikalischer Einheiten zu der anderer lexikalischer Einheiten bzw. Gruppen solcher Einheiten.

Auf eine gründliche Kritik der wiedergegebenen Beispiele und deren Präsentation, der Konzeptionen und der Terminologie der einzelnen Autoren wird an dieser Stelle verzichtet. Sie wird, sofern sie für die Argumentation dieser Arbeit von Belang ist, in den Abschnitt 3 eingehen.

Bei der Darstellung der einzelnen Ansätze wird im allgemeinen auf die Terminologie der jeweiligen Autoren zurückgegriffen.

 

2.1.1 Strukturalistische Semantik

2.1.1.1 Europäische strukturelle Semantik

In überblicksartigen Darstellungen (vgl. z. B. J. Lyons 1977, S. 317) wird als erster moderner Linguist — d. h. als erster Linguist nach Ferdinand de Saussure —, der die Beschreibung der Inhaltsseite sprachlicher Zeichen mit Hilfe einer Zerlegung in Komponenten oder (semantische) Merkmale angeht, Louis Hjelmslev genannt. Hier sollen Natur und Stellenwert dieser Merkmale in Hjelmslevs Auffassung zur Sprachtheorie dargestellt werden, wie sie sich besonders in den als "Prolegomena" bekannten Ausführungen (1943/1974) widerspiegeln.

Für eine linguistische Analyse schlägt Hjelmslev aufgrund wissenschaftstheoretischer Überlegungen ein Verfahren vor, das er "Deduktion" nennt. Das bedeutet, die Analyse nimmt ihren Anfang bei einer Ganzheit — dem Text —, die dann in Teile zerlegt wird (vgl. a. a. O., S. 17). Die Analyse des "Verlaufs" eines (konkreten) Texts soll Erkenntnisse über das "System" einer Sprache liefern.

Diese Unterscheidung schlägt sich auch in der Terminologie nieder: Die Gegenstände der Analyse — die "Klassen" und deren "Komponenten" — heißen innerhalb eines Verlaufs "Ketten" und deren "Teile", innerhalb eines Systems heißen sie "Paradigmen" und "Glieder". Dabei sollen die internen Dependenzen im Fokus der Sprachwissenschaft stehen; ihre ‚Gegenstände‘ sind keine eigentlichen Dinge, sondern vielmehr Relationen (vgl. S. 28).

Die Analyse besteht also darin, daß ein Textverlauf so lange in Ketten zerlegt wird, deren Teile wieder Ketten sind, bis die Teilung erschöpft ist (vgl. S. 34).

Von Ferdinand de Saussure übernimmt Hjelmslev die grundlegende Dichotomie Ausdruck — Inhalt:

Ausdruck und Inhalt […] setzen sich notwendigerweise gegenseitig voraus. Ein Ausdruck ist nur Ausdruck kraft dessen, daß er Ausdruck für einen Inhalt ist, und ein Inhalt ist nur Inhalt kraft dessen, daß er Inhalt für einen Ausdruck ist.

(Hjelmslev 1943/1974, S 53)

Ausdruck und Inhalt sind also rein relationale Größen. Der Aspekt der Funktionalität bestimmt hier den Zeichenbegriff. Ausdruck und Inhalt sind die Funktive der "Zeichenfunktion" (vgl. ebd.).

Die Zeichenfunktion spielt eine wesentliche Rolle bei der Teilung des Texts: Die Kette wird nicht in beliebige Teile zerlegt, sondern in solche, denen eine Zeichenfunktion zukommt. Die Methode, mit der die Elemente als Zeichen identifiziert werden, nennt Hjelmslev "Kommutation". Darunter versteht er einen Austausch eines Elements der Inhaltsebene, der einen Unterschied auf der Ausdrucksebene nach sich zieht und vice versa (vgl. S. 73). So erhält man das Inventar der Zeichen einer Sprache, welches — z. B. aufgrund der Produktivität einzelner Wurzeln — prinzipiell unbegrenzt ist (vgl. S. 49f.). Die deduktive Analyse führt jedoch irgendwann zu Elementen, die nur unter einem bestimmten Gesichtspunkt noch als Zeichen anzusehen sind, unter einem anderen aber als Nicht-Zeichen. Aus beschreibungsökonomischen Erwägungen ergibt sich nun, daß alle Zeichen aus einem stark begrenzten Inventar von Nicht-Zeichen zusammengesetzt sein müssen. Solche Nicht-Zeichen heißen "Figuren". Die kleinsten, irreduziblen Invarianten — wie beispielsweise distinktive Merkmale in der Phonologie —, die die Endpunkte der Analyse darstellen, werden auch als "Glosseme" bezeichnet (vgl. S. 79 und 98f.).

Hjelmslev behandelt nun die Ausdrucks- und die Inhaltsebene streng analog. Wie auf der Ausdrucksebene z. B. eine phonologische Analyse durch Kommutation zu distinktiven Gegensätzen und somit zu einem Phoneminventar gelangt (vgl. S. 65), so setzt auch eine erschöpfende Inhaltsbeschreibung voraus,

daß die Zeichen, deren Anzahl unbegrenzt ist, auch was ihren Inhalt anbelangt, sich erklären und beschreiben lassen mithilfe einer begrenzten Anzahl von Figuren; und auch die Reduktionsforderung muß hier die gleiche bleiben, wie bezüglich der Ausdrucksebene. (S. 68)

Hier sei ein Beispiel aus Hjelmslevs Plädoyer "Für eine strukturale Semantik" (1959/1974) aufgeführt, welches zeigen sollte, daß auch die herkömmliche Sprachbeschreibung die analoge Analyse von Ausdruck und Inhalt eines Zeichens kennt: Engl. am ist demnach ausdrucksseitig aus a und m zusammengesetzt, auf der Inhaltsebene werden durch die Kommutationsprobe die fünf Figuren

"be" (sein) + ‘1. Person’ + ‘Singular’ + ‘Präsens’ + ‘Indikativ’

ermittelt (S. 118).

Die Inhaltsfiguren, aus denen ein Zeichen auf der Inhaltsebene besteht, stellen jedoch keineswegs die Bedeutung des Zeichens dar. Bedeutung ist nach Hjelmslev stets rein kontextuell (vgl. ders. 1943/1974, S. 48).

 

Im Anschluß an Hjelmslev benutzt auch Bernard Pottier die phonologische Analyse in der Nachfolge des Prager Strukturalismus als Vorlage für eine semantische Analyse (vgl. Pottier 1963, S. 8—18). Die "distinktiven semantischen Merkmale der Lexeme" (ders. 1964/1978, S. 68) werden als "Seme" bezeichnet. Das Bündel von Semen, das den semantischen Gehalt der Bedeutungsform ausmacht, heißt "Semem". Für die Semantik von Stuhl ergäbe das z. B.:

Stuhl: {s1, s2, s3, s4} ("zum Sitzen, auf Beinen, für eine Person, mit Lehne"). In der Menge, die Sessel enthält, ist Stuhl relativ definiert als ohne das Sem s5 ("mit Armlehnen"), und so fort. (Ebd.)

Die Seme ermittelt Pottier mit Hilfe eines Gedankenexperiments (vgl. 1963, S. 11—13): Man stelle sich vor, welche Objekte z. B. als Stuhl bezeichnet werden könnten, dann sortiere man die Charakteristika dieser Objekte. Diejenigen, welche nicht allen (Stuhl-)Objekten gemeinsam sind, wie z. B. eine bestimmte Farbe oder das Material, werden nicht weiter berücksichtigt, die anderen werden als relevante Merkmale angesehen. Die Analyse der französischen Wörter für Sitzgelegenheiten hinsichtlich ihrer Seme läßt sich nach Pottier folgendermaßen darstellen (1963, S. 16):

 

s1

s2

s3

s4

s5

s6

 

chaise

+

+

+

+

+

= S1

fauteuil

+

+

+

+

+

+

= S2

tabouret

+

+

+

+

= S3

canapé

+

+

+

+

+

= S4

pouf

+

+

+

= S5

Das Vorhandensein bzw. Nichtvorhandensein der Seme (s) ist hier durch ‚+‘ bzw. ‚—‘ gekennzeichnet; die Summe der Seme eines Lexems stellt das jeweilige Semem (S1—5) dar.

Die einzelnen Seme sind hier: s1 = ‘mit Rückenlehne’, s2 = ‘auf Beinen’, s3 = ‘für 1 Person’, s4 = ‘zum Sitzen’, s5 = ‘mit Armlehne’, s6 = ‘aus festem Material’. Die Seme, die allen Sememen einer Gruppe gemeinsam sind (hier s2 und s4), bilden ein "Archisemem". Das ist die Inhaltsstruktur des jeweiligen Oberbegriffs, des sog. "Archilexems", in diesem Fall also siège ‘Sitzgelegenheit’.

Pottier setzt noch eine andere Art von semantischen Merkmalen an — die "Klasseme". Ein Klassem wirkt im Unterschied zu einem Sem nicht bedeutungsdifferenzierend, sondern verbindet ein Lexem "mit den ganz allgemeinen semantischen Klassen, wie sie sich aus den distributionellen Verhaltensweisen ergeben" (1964/1978, S. 71). Solche Klassen können z. B. aus so basalen Unterscheidungen wie der zwischen Belebtheit und Unbelebtheit hervorgehen. Der Unterschied zum Archisemem wird jedoch nicht recht klar. In der folgenden tabellarischen Darstellung der Semantik von Stuhl führt Pottier (S. 73) hinsichtlich der Belebtheit das Klassem K3 (materieller Gegenstand), hinsichtlich der Kontinuität K31 (diskontinuierlicher materieller Gegenstand) und hinsichtlich der Transitivität K9 (intransitiv) an: [5]

Die Analyse der Lexeme erfolgt stets in einer Gruppe, die auch als "Feld" angesprochen wird. Es gibt jedoch keine wohldefinierten Kriterien dafür, welche Lexeme zu einer solchen Gruppe gehören. Letztlich bleibt die Entscheidung der Intuition überlassen (vgl. S. 50—55 und ders. 1963, S. 15f.).

 

Hans-Jürgen Heringer hat (1968) Pottiers beispielhafte Analyse der Wörter für Sitzgelegenheiten aufgegriffen und in leicht modifizierter Form ins Deutsche übertragen. Der Puff wird nicht mehr berücksichtigt, statt dessen wird Bank in die Untersuchung einbezogen. Das Sem ‘auf Beinen’ fällt weg. Zur Beschreibung der Sememe (S) von Stuhl, Sessel, Hocker, Bank und Sofa werden die Seme s1 = ‘mit Rückenlehe’, s2 = ‘mit Armlehne’, s3 = ‘für eine Person’, s4 = ‘Möbel zum Sitzen’ und s5 = ‘mit Polsterung’ angesetzt. In der folgenden schematischen Darstellung (vgl. a. a. O., S. 227) werden Seme, die im Einzelfall irrelevant sind, ausgelassen; die Negation eines Sems wird durch ein Minuszeichen (—) angezeigt.

Stuhl

S1 =

s1

—s2

s3

s4

 

Sessel

S2 =

s1

s2

s3

s4

s5

Hocker

S3 =

—s1

—s2

s3

s4

 

Bank

S4 =

   

—S3

s4

 

Sofa

S5 =

s1

s2

—S3

s4

s5

Heringers besonderes Interesse gilt dem Phänomen der Neutralisation, das in eine Neubestimmung des Begriffs "Archisemem" mündet: Pottier kennt nur jeweils ein Archisemem für alle Sememe eines Ensembles, Heringer hingegen bestimmt auch Archisememe für einzelne Teilbereiche. So wird nicht nur s4 als Archisemem von S1—5 bestimmt, sondern auch die Kombination von s3 und s4 als Archisemem von S1, S2 und S3. Mit dieser Methode lassen sich Asymmetrien und Lücken im Wortschatz einer Sprache feststellen. So läßt sich z. B. im Deutschen das Archisemem von S1, S2 und S3 nur durch eine (nicht lexikalisierte) Umschreibung wie Sitzmöbel für eine Person ausdrücken (vgl. S. 228).

 

A.—J. Greimas führt ebenfalls unter dem Terminus "Sem" semantische Merkmale nach dem Vorbild der distinktiven Merkmale der Phonologie ein (vgl. 1966, S. 22). Im Gegensatz zu Pottiers Konzeption, in der die Bedeutungsdifferenzierung lediglich durch das Vorhandensein bzw. Nichtvorhandensein eines Sems gegeben war, können die Seme bei Greimas noch auf weitere Arten differenzierend wirken (vgl. auch im folgenden a. a. O., S. 23—25). Die Anwesenheit eines Sems (s) wird als ‚positives Sem‘ bezeichnet, während ein ‚negatives Sem‘ eben keine Abwesenheit, sondern die Anwesenheit des Gegenteils (nicht s) darstellt. Die Abwesenheit sowohl von s als auch von nicht s wird als ‚neutrales Sem‘ (—s) bezeichnet. Im Falle eines komplexen Sems trifft sowohl s als auch nicht s zu, das heißt, daß die übergeordnete Sem-Kategorie S vorhanden ist.

Die Seme sind nicht bloß Eigenschaften der zu analysierenden Inhalte der Lexeme; vielmehr stellt die Summe der Seme eine erschöpfende semantische Definition dar:

Force nous est donc de rester sur le plan phénoménologique, c’est-à-dire linguistique, et de postuler, avec Russel, que les qualités définissent les choses, c’est-à-dire que le sème s est un des éléments constituant le terme-object A, et que celui-ci, au bout d'une analyse exhaustive, se définit comme la collection des sèmes s1, s2, s3, etc. (S. 27)

Zwei Seme, die in einer minimalen Opposition zueinander stehen, befinden sich auf einer "semantischen Achse", die als eine Art ‚gemeinsamer Nenner‘ der beiden miteinander in Beziehung gesetzten Objekte (Seme) verstanden werden kann (S. 21). Es besteht eine hierarchische Beziehung zwischen einer Achse und den darauf liegenden Semen. Auch die semantischen Achsen untereinander stellen ein hierarchisch gegliedertes System dar, in dem die auf einer Achse liegenden Objekte selbst wieder als Achse fungieren können. Somit ist auch ein Lexem nicht bloß als ungegliederte Kollektion von Semen aufzufassen, sondern als ein "ensemble de sèmes reliés entre eux par des relations hiérarchiques" (S. 36). Die folgende Darstellung soll das Sem-System der Räumlichkeit veranschaulichen:

Nach den lexematischen Manifestationen der Elemente geordnet ergibt sich folgende tabellarische Darstellung des Sem-Systems der Räumlichkeit für das Französische:

spatialité

dimen-sionalité

verticalité

horizon-talité

perspec-tivité

latéralité

+

+

+

+

+

+

+

+

+

+

+

+

+

+

+

+

+

+

+

+

+

+

+

+

       

(A. a. O., S. 35)

Die durch eine spitze Klammer zusammengefaßten Lexeme liegen auf den Endpunkten einer semantischen Achse (vgl. S. 21). Durch ihre hier dargestellte — völlig parallele — Semstruktur sind sie nicht differenzierbar. Die Opposition der Adjektive auf einer Achse ergibt sich erst durch die Kategorie der relativen Quantität: so ist z. B. frz. long ‘lang’ durch ein relatives Mehr an Länge gegenüber court ‘kurz’ ausgezeichnet; das heißt, zur Bedeutungsdifferenzierung dieser Ausdrücke werden zusätzlich die Seme ‘große Quantität’ bzw. ‘kleine Quantität’ benötigt.

Die postulierte Hierarchie der Achsen und Seme soll allerdings nicht erklären, in welchem Verhältnis die lexikalischen Einheiten zueinander stehen: "Die Inhaltsstruktur des Wortschatzes einer langue oder der lexikalische Sprachvergleich bildet […] kein Beschreibungsziel Greimas’". (Grosse 1971/1974, S. 92)

 

Die stellenweise inkonsistente und recht unübersichtliche Terminologie Greimas’ erfuhr durch E. U. Grosse (1971/1974) eine anregende Neuinterpretation:

Jedes Inhaltselement, das als Achse S fungieren kann, ist ein Klassem. Jedes Endelement der (einfachen oder mehrfachen) Untergliederung einer Achse ist ein Sem.

(S 101; Hervorh. v. m., Ph. O.)

Greimas verstand unter "Klassemen" noch Elemente, die auf der syntagmatischen Ebene Lexeminhalte miteinander verketten (vgl. ders. 1966, S. 50—54), bei Grosse fungieren sie hingegen als übergeordnete (nichtminimale) Inhaltselemente. Lediglich diese Klasseme bzw. die semantischen Achsen, die sie repräsentieren, werden als hierarchisch gegliedert angesehen, die Seme hingegen nicht. So zeichnet sich z. B. die Relation zwischen frz. bateau ‘Schiff’ und moyen de transport ‘Transportmittel’ nicht etwa dadurch aus, daß die Seme der beiden Lexien in einer hierarchischen Beziehung zueinander stehen, sondern lediglich durch das Fehlen des Sems ‘auf dem Wasser’ bei gleichzeitiger Identität der übrigen Seme im Fall von moyen de transport. Eine hierarchische Beziehung besteht lediglich zwischen Semen und Klassemen bzw. zwischen semantischen Achsen (vgl. Grosse 1971/1974, S. 120f.).

 

Die strukturelle Semantik der Tübinger Schule arbeitet bei der Inhaltsanalyse von Lexemen mit Merkmalen, die in der Tradition der Arbeiten Hjelmslevs und Pottiers stehen. H. Geckeler führt darüber hinaus den von F. G. Lounsbury (s. u. Kap. 2.1.1.2) entlehnten Terminus "Dimension" ein (vgl. Geckeler 1971, S. 246f.). Er gliedert die semantischen Merkmale in Seme und Dimensionen, wobei die Dimensionen den "Hauptträger des lexikalischen Inhalts" (S. 247) darstellen, während die Seme "inhaltsdifferenzierend innerhalb der Dimensionen" (ebd.) fungieren.

In diesen Zusammenhang gehört auch der Aufsatz "Immer wieder ‘Stuhl’… Zur Kontinuität eines Beispiels in der lexikalischen Semantik" von U. Hoinkes (1995), der das zum Standardbeispiel avancierte Problem einer Neuinterpretation unterzieht. Hoinkes bemerkt, daß schon in den Untersuchungen von H. Gipper (1959), W. v. Held (1976) und M. Faust (1978) der funktionale Aspekt der Sitzgelegenheit eine entscheidende Rolle spielt, was er in der Natur des Untersuchungsgegenstands begründet sieht: Bei Sessel, Stuhl etc. handelt es sich um Bezeichnungen für Artefakte. An Ausführungen Jean-Paul Sartres anknüpfend bestimmt Hoinkes Artefakte als "zunächst einmal und grundsätzlich durch ihre Funktionalität definiert" (1995, S. 317). En détail umfaßt die Argumentation folgende Schritte:

1) Ein Artefakt ist ein Gegenstand, der aufgrund einer bestimmten Vorstellung, eines begrifflichen Konzepts entstanden ist. Dieses Konzept des Gegenstands geht seiner Erstellung voraus und beinhaltet im strengen Sinne das Wesentliche des Gegenstands.

2) Aus der jeweiligen Konzeption eines Artefakts läßt sich unabhängig von jeder Realisierung eine Produktionsvorschrift ableiten, die bereits auf die konkrete Erstellung des Artefakts Bezug nimmt.

3) Die Produktionsvorschrift beruht ihrerseits wieder auf dem Verwendungszweck des Artefakts, der somit sein eigentliches Wesen ausmacht. (Ebd.)

Dementsprechend werden nun für die Beschreibung der Wörter für Sitzgelegenheiten im Neuhochdeutschen Merkmale angesetzt, die dem Aspekt der Funktionalität Rechnung tragen. Für die semantische Beschreibung von Stuhl setzt er folgende Seme an, die auch als "Inhaltsfunktionen" (s[f]) bezeichnet werden (vgl. S. 318):

Stuhl: s(f)1: ‘zum Sitzen’ s(f)2: ‘zum Anlehnen’ s(f)3: ‘für 1 Person’

Diese drei Seme verteilen sich auf drei Dimensionen: eine physische, eine psychische und eine soziale. Dieselben Inhaltsfunktionen gelten auch für Sessel; um nun Sessel von Stuhl abgrenzen zu können, wird für Sessel zusätzlich die Inhaltsfunktion s(f)4: ‘um es sich bequem zu machen’ angesetzt. Um den gesamten von Hoinkes untersuchten Wortschatzausschnitt der Wörter für Sitzgelegenheiten im Deutschen beschreiben zu können, werden die drei Dimensionen noch durch die Seme bzw. Inhaltsfunktionen ‘zum Stehen’, ‘zum Liegen’ und ‘für mehrere Personen’ ausdifferenziert (S. 321):

Zusätzlich zu den Möglichkeiten a) Merkmal erfordert, da konstitutiv (durch ‚X‘ symbolisiert), b) Merkmal nicht möglich, da nicht konstitutiv und nicht beachtet (durch ‚—‘ symbolisiert) und c) Merkmal nicht erfordert, da nicht konstitutiv, obwohl eventuell beachtet (durch ‚O‘ symbolisiert) führt Hoinkes noch eine weitere Möglichkeit ein: d) Merkmal erfordert, da bedingt konstitutiv und exklusiv zu anderem Merkmal (durch ‚(X)‘ symbolisiert) [6].

Hoinkes versteht seine Untersuchung als paradigmatische Bedeutungsbestimmung, das heißt, als "Beschreibung der Inhaltsstruktur des Wortfeldes der Sitzgelegenheiten" (S. 320).

 

Werner v. Helds Entwurf "Zur Beschreibung und Darstellung begrifflicher Komponenten von Ausdrucksbedeutungen" (1976) steht zwar in der Tradition der europäischen strukturellen Semantik, kann aber nicht als ‚strukturalistisch‘ im eigentlichen Sinn bezeichnet werden, da er mit dem strukturalistischen Dogma bricht, daß die Bedeutung eines Ausdrucks ausschließlich relational zu bestimmen sei.

Der Inhalt eines Lexems wird als Menge von Wissensdaten gedacht, die zum Textverständnis erforderlich sind (vgl. a. a. O., S. 167). So sind z. B. die Sätze

1. Ilse sitzt auf einem Stuhl. 2. Die Lehne ist angesägt. 3. Sie wackelt. 4. Ein Anlehnen ist unmöglich. (Ebd.)

nur dann verständlich, wenn folgende Wissensdaten eingesetzt werden:

ein Stuhl dient zum Sitzen und Anlehnen / hat Teile: Lehne,… / besteht oft aus sägbarem Material usw. (Ebd.)

Diese Wissensdaten werden als "Sinnrelationen" dargestellt. Eine solche Sinnrelation bildet z. B. den Bereich der Artefakte in den Bereich der Zweckbestimmungen ab: Da Artefakte hauptsächlich durch ihren Zweck bestimmt sind, läßt sich Stuhl dadurch charakterisieren, daß zwischen Stuhl und Sitzen die Sinnbeziehung Hauptzweck (HZWK) besteht, oder umgangssprachlich formuliert: Stühle sind zum Sitzen da (vgl. S. 168). Zur Bestimmung des begrifflichen Inhalts (BI) führt v. Held weiter folgende Begriffskomponenten an: Nebenzweck (NZWK), Benutzer (BNUZ), Anzahl (ANZL), Art-Gattung (ARGA), Ganzes-Teil (GZTL) sowie weitere Bedingungen und Umstände (UMST): Lage (LAGE), Sich-befinden-auf (BFAU) und Höhe (HÖHE). Formalisiert dargestellt ergibt sich daraus für den begrifflichen Inhalt von Stuhl (S. 169):

BI(Stuhl) = {HZWK(Sitzen), NZWK(Anlehnen), BNUZ(Mensch), ANZL(BNUZ)(1), ARGA(Möbel), GZTL(Lehne, Sitzfläche,…),… UMST{(Sitzfläche)LAGE(waagerecht), (Lehne)BFAU(Rand(Sitzfläche)),(Lehne)LAGE(senkrecht v geneigt(leicht)(hinten)), (Untergestell)HÖHE @ (Unterschenkel(Erwachsener))HÖHE,…}}

Diese Komponenten bilden das "Typwissen", eine Art von invarianten Begriffsmerkmalen. Davon unterscheidet v. Held das "Tatsachenwissen" (T), das Merkmale enthält, die nicht auf jeden Stuhl zutreffen, die aber häufig (Toft) oder selten (Tselt) an den betreffenden Gegenständen realisiert sind, wie z. B. die Festigkeit (FEST) der Sitzflächen oder weitere Gegenstandsteile:

Wie oben schon angedeutet erfolgt die Bestimmung der Inhaltselemente unabhängig von anderen Lexemen. W. v. Held postuliert aber für das Lexikon eine "netzwerkartige Struktur" (S. 168). Die Verknüpfung der lexikalischen Elemente ergibt sich daraus, daß die Komponenten zur Beschreibung des Inhalts von z. B. Stuhl selbst wieder Lexeme enthalten (Sitzen, Anlehnen, Mensch, Möbel usw.), die einer solchen Inhaltsbestimmung bedürfen.

 

2.1.1.2 Amerikanische strukturelle Semantik

Unabhängig von der europäischen Tradition entwickelte sich in den 50er Jahren die Komponentialanalyse in den USA. Zuerst waren es Anthropologen wie W. H. Goodenough und F. G. Lounsbury, die nach dem Vorbild der strukturalistischen Linguistik formale Methoden zur Analyse der Verwandtschaftsterminologie in den Sprachen ‚primitiver‘ Völker erarbeiteten. Zu dieser Zeit war die Linguistik in den USA rein ausdrucksseitig orientiert, und so avancierte dieser Ansatz erst einige Zeit später zu einer Methode der Semantik als einer linguistischen Teildisziplin (z. B. durch den überaus einflußreichen Aufsatz von J. J. Katz und J. A. Fodor (1963); vgl. unten Kapitel 2.1.2).

 

Goodenough bestimmt in Anlehnung an eine Sem-Definition Nidas [7] die impliziten Bedeutungen in den Formen eines Paradigmas als "basic components of signification" (Goodenough 1956, S. 198, Fußn. 6; Hervorh. v. m., Ph. O.). Die Bedeutungskomponenten eines solchen Paradigmas zerfallen in eine Konstante und mindestens eine Variable. Die konstante Komponente stellt beispielsweise im System der Verwandtschaftstermini der mikronesischen Ethnie der Truk die Eigenschaft dar, mit dem Lexem tefej bezeichnet werden zu können, das auf alle Verwandten einer Bezugsgröße Ego anwendbar ist und in etwa mit ‘Verwandte/r’ wiedergegeben werden kann. Die variablen Komponenten ("conceptual variables") gliedern sich jeweils in mehrere Werte ("values"). Das System der Verwandtschaftstermini der Truk beschreibt Goodenough mit folgenden Bedeutungskomponenten (vgl. a. a. O., S. 205f.):

constant

conceptual variable

value

A: being tefej to ego

B: seniority of generation

B1: senior

B2: same

B3: junior

 

C: sex of the relative

C1: male

C2: female

 

D: symmetry or parallelism of relationship to the connecting matrilineal group

D1: symmetrical

D2: asymmetrical

 

E: sex relative to ego’s sex

E1: same sex

E2: opposite sex

 

F: mode of relationship

F1: consanguineal

F2: affinal

 

G: age relative to ego’s age

G1: older

G2: younger

 

H: matrilineal group membership relative to ego’s

H1: member of ego’s group

H2: member of ego’s father’s group

H3: member of neither group

 

J: collateral removal

J1: lineal

J2: not lineal

Die Inhaltsseite der 14 Verwandtschaftstermini der Truk-Sprache mit Lexemstatus [8] läßt sich so durch die Kombinationen ihrer Bedeutungskomponenten ("sememes") darstellen (vgl. S. 206):

Lexem

Semem

semej

AB1C1

semenapej

AB1C1J1

jinej

AB1C2

jinenapej

AB1C2J1

pwiij

AB2D1E1

mwëgejej

AB2D1E2F1

mwääni

AB2D1E2F1C1

feefinej

AB2D1E2F1C2

jëësej

AB2D2E1

pwynywej

AB2D2E2

neji

AB3

jääj mwään

AH1E1G1

mwääninyki

AH1E1G2

jinejisemej

AH2C2

In den verschiedenen Paradigmata, die Goodenough für diese und andere mögliche Interpretationen des Materials aufstellt, tauchen auch Positionen auf, die zwar systematisch plausibel sind, denen aber in der Truk-Sprache kein Lexem entspricht, z. B. AB1C1J2. Diese Konzepte, für die es keine Lexeme gibt, "must nevertheless be a part of Trukese culture, active elements in Trukese thinking" (S. 209). Das Ziel dieser Komponentialanalyse ist also nicht vorrangig die semantische Beschreibung des Lexikons einer Sprache, exemplarisch am Wortschatzausschnitt der Verwandtschaftsbezeichnungen durchgeführt, sondern vielmehr die Erforschung von Kultur und Geisteswelt einer Sprechergemeinschaft (vgl. auch ders. 1965, S. 286).

 

F. G. Lounsbury will hingegen seine Untersuchungen zur Verwandtschaftsterminologie explizit als Beitrag zur Methodologie der Semantik verstanden wissen: "Our interest in this paper […] is […] in illustrating a method of semantic description" (1964, S. 1073). Die Verwandtschaftstermini, die ein "semantic field" (ebd.) darstellen, werden wie bei Goodenough systematisch als Paradigma analysiert, das durch ein gemeinsames Merkmal ("root meaning") und variable Merkmale konstituiert wird. Die variablen Merkmale sind die semantischen Dimensionen ("semantic dimensions") des Paradigmas. Die Dimensionen setzen sich zusammen aus sich gegenseitig ausschließenden distinktiven Merkmalen ("features"). Der Inhalt eines Terms des Paradigmas ist das Bündel dieser Merkmale.

Die Verwandtschaftsterminologie der Seneca wird von Lounsbury mit Dimensionen bzw. Merkmalen wie ‘Geschlecht des Verwandten’ (‘männlich’ [m] vs. ‘weiblich’ [f]), ‘Generationszugehörigkeit’ (G0 für die Generation des Egos, G1, G2 etc. bzw. G—1, G—2 etc. für die jeweilige Generation über bzw. unter der des Egos), ‘relatives Alter’ (A+ ‘älter’ vs. A ‘jünger’) und relatives Geschlecht (‘gleiches Geschlecht wie Ego’ [L=] vs. ‘anderes Geschlecht’ [L—]) beschrieben. Die allen Merkmalsbündeln gemeinsame "root meaning" (K) beinhaltet, daß auf alle Individuen, auf die mit einem speziellen Verwandtschaftsterminus referiert werden kann, auch mit dem allgemeinen Lexem akyatênôhk ‘mein Verwandter’ referiert werden kann. Der Ausschnitt der Verwandtschaftstermini für die Angehörigen der Generation des Egos ist in der Sprache der Seneca folgendermaßen strukturiert (vgl. a. a. O., S. 1077—1082):

hahtsi?

A+·m·L=·G0·K.

he?kê:?

A·m·L=·G0·K.

ahtsi?

A+·f·L=·G0·K.

khe?kê:?

A·f·L=·G0·K.

akyâ:?se:?

L·G0·K.

Die Beschreibung nach Dimensionen bzw. Merkmalen führt Lounsbury auf Alfred Louis Kroeber zurück, der bereits 1909 eine Liste [9] mit Arten von zu berücksichtigenden Unterschieden zwischen Verwandten erstellte: "This list is still our guide" (Lounsbury 1956, S. 168).

Allein mit einer solchartigen Beschreibung lassen sich aber bestimmte Besonderheiten im Bereich der Verwandtschaftsterminologie nicht erklären, denn zu einer vollständigen formalen Beschreibung gehört nach Lounsbury (1964/1969, S. 212) zweierlei, nämlich "(1) a set of primitive elements, and (2) a set of rules for operating on these, such that by the application of the latter to the former, the elements of a ‚model‘ are generated". So wird z. B. eine Besonderheit in der Verwandtschaftsterminologie der Sprache der Crow [10] damit erklärt, daß es eine Primärbedeutung gibt, aus der sich sekundäre Verwendungsweisen mit Hilfe von Regeln ableiten lassen. Eine solche Regel ist z. B. die "skewing rule"

fB… —> fs…

die besagt, daß der Bruder (B) einer jeden Frau als äquivalent zu einem Sohn (s) dieser Frau angesehen wird. Die Verknüpfung solcher Regeln führt dann über mehrere Stationen zu der Gleichsetzung von beispielsweise — unserem Verständnis entsprechend — Cousine und Großmutter (vgl. Lounsbury 1964, S. 1089f.).

 

Nachfolgende Autoren haben die Methode der Komponentialanalyse von Goodenough und Lounsbury aufgegriffen und von dem ursprünglichen Anwendungsbereich der Verwandtschaftsterminologie auf andere Wortschatzausschnitte ausgedehnt, so z. B. E. H. Bendix (1966, S. 1): "Now our task is to proceed into the deeper waters of less obviously structured domains." Das Wirksamwerden von Ersetzungsregeln gewinnt in diesen Arbeiten zunehmend an Bedeutung. Kamen die Regeln bei Lounsbury erst nach der eigentlichen Komponentenanalyse bei der Interpretation der Paradigmata zur Anwendung, so sind sie beispielsweise bei Bendix bereits Teil der Bedeutungsanalyse des engl. Verbs have (vgl. a. a. O., S. 37—59). Die Bedeutung von have ist selbst wiederum ein konstitutives Merkmal im Paradigma einiger weiterer von Bendix analysierter Verben (vgl. S. 76).

Die zunehmende Verwendung von Regeln innerhalb semantischer Komponentialanalysen ist sicherlich auch darauf zurückzuführen, daß die generative Transformationsgrammatik in den 60er Jahren zur tonangebenden Methode der Linguistik wurde [11]. So will z. B. E. Nida, der die Methodologie der Komponentialanalyse als in großem Maße von Lounsbury und Goodenough abhängig sieht, seine Herangehensweise als dem generativen Ansatz verpflichtet verstanden wissen, wie er im Vorwort zu "Componential analysis of meaning" (1975) verkündet:

As will be quite evident, the general linguistic orientation throughout this volume is generative-transformational, and the treatment of the relations between components indicates clearly a dependence upon the generative-semantic approach. (S. 7f.)

Ganz so offensichtlich ist dieser Bezug allerdings nicht. Zumindest die in diesem Band vorgeführten Bedeutungsanalysen lassen keine Auswirkungen dieses methodologischen Bekenntnisses erkennen.

 

2.1.2 Lexikalische Semantik und generative Transformationsgrammatik

Der wegweisende Aufsatz "The structure of a semantic theory" von J. J. Katz und J. A. Fodor (1963) verhalf der Semantik zu einem Platz innerhalb der Theorie der syntaxdominierten Transformationsgrammatik. Ziel einer solchen semantischen Theorie ist die Beschreibung der Fähigkeit, mit deren Hilfe ein Sprecher die Sätze einer Sprache interpretiert:

A semantic theory describes and explains the interpretative ability of speakers by accounting for their performance in determining the number and content of the readings of a sentence, by detecting semantic anomalies, by deciding on paraphrase relations between sentences, and by marking every other semantic property or relation that plays a role in this ability.

(A. a. O., S. 176)

Die Theorie umfaßt eine Lexikonkomponente und einen Regelapparat. Lexikoneinträge beinhalten Angaben zur grammatischen (= syntaktischen) Funktion ("grammatical markers") und zwei Arten von semantischen Merkmalen: "semantic markers" und "distinguishers" (vgl. S. 185). Damit lassen sich die vier verschiedenen Bedeutungen von engl. bachelor ‘Junggeselle’, ‘Knappe’, ‘Bakkalaureus’, ‘junge Bärenrobbe ohne Partner in der Paarungszeit’ als die vier Pfade eines Baumdiagramms darstellen:

(A. a. O. S. 190)

Der "grammatical marker" für alle Pfade ist hier "noun". Die "semantic markers" stehen in runden, die "distinguishers" in eckigen Klammern. Der Unterschied zwischen "semantic markers" und "distinguishers" besteht darin, daß erstere — im Gegensatz zu letzteren — den Teil der Bedeutung eines lexikalischen Elements wiedergeben, der "systematic for the language" (S. 188) ist. So muß z. B. (Young) als "semantic marker" fungieren, und darf nicht Teil des "distinguishers" [knight serving under the standard of another knight] sein, damit ein kompetenter Sprecher einen Satz wie The old bachelor finally died nicht als zweideutig interpretiert, da ein Knappe notwendigerweise jung ist, ein Junggeselle hingegen nicht. (Human) und (Male) reichen nicht aus, um die beiden Bedeutungen voneinander zu differenzieren, und diese systematische Desambiguierung muß eben per definitionem über "semantic markers" erfolgen (vgl. S. 189f.).

Am Ende eines Pfads können noch weitere, Merkmalen ähnliche Arten von Informationen vermerkt sein: Es handelt sich dabei um — in späteren Veröffentlichungen (vgl. z. B. Katz 1972, S. 89—97) "selection restrictions" genannte — Merkmale, die Bedingungen für eine semantisch annehmbare Verknüpfung einer Bedeutung mit der eines anderen Pfads darstellen. So hat z. B. das engl. Adjektiv honest die Bedeutung ‘unschuldig im Hinblick auf unerlaubten Geschlechtsverkehr’ nur unter der Bedingung, daß es als "modifier" eines "heads" auftritt, der in einem Pfad die "semantic markers" (Menschlich) und (Weiblich) aufweist. Damit ergibt sich für honest in dieser Bedeutung folgende formale Darstellung des Pfads (vgl. Katz & Fodor 1963, S. 191):

honest —> adjective —> (Evaluative) —> (Moral) —> [innocent of illicit sexual intercourse] <(Human) & (Female)>.

Um einen Satz richtig interpretieren zu können, müssen die für den jeweiligen Satz angemessenen Bedeutungen aller Teile des Satzes, d. h. die entsprechenden Pfade der lexikalischen Einheiten, ausgewählt werden. Das geschieht mit Hilfe von sogenannten "Projektionsregeln" ("projection rules"):

The central problem for such a theory is that a dictionary usually supplies more senses for a lexical item than it bears in an occurence in a given sentence, for a dictionary entry is a characterization of every sense that a lexical item can bear in any sentence. Thus, the effect of the projection rules must be to select the appropriate sense of each lexical item in a sentence in order to provide the correct readings for each distinct grammatical structure of that sentence. (A. a. O., S. 183)

Vor dem Wirksamwerden dieser Regeln greift noch eine der Lexikonkomponente zugehörige Instruktion (I), die nur diejenigen Pfade der lexikalischen Einheiten im zu interpretierenden Satz auswählt, welche zusammen grammatikalisch (= syntaktisch) korrekte Sätze ergeben. Die Menge dieser Pfade bildet dann die Eingabe für die eigentlichen Projektionsregeln (vgl. S. 196). Katz und Fodor zeigen nun anhand des Beispielsatzes The man hits the colorful ball auf, welche Regeln notwendig sind, um alle in Frage kommenden Pfade miteinander zu kombinieren und die dabei entstehenden nichtzulässigen Interpretationen auszuschließen. Der diesem Satz zugrundeliegende Konstituentenstrukturbaum wird dazu von unten nach oben aufsteigend behandelt. Dieser "amalgamation" genannte Prozeß soll hier nur kurz anhand der Phrase

veranschaulicht werden, welche die ‚unterste‘ Verzweigung des gesamten Satzes darstellt (vgl. S. 197—199). Nach Anwendung der Instruktion (I) erhält jede Konstituente des Satzes eine Menge P von möglichen Interpretationen (Pfaden); im Fall von colorful ball sind das die Mengen P4 mit zwei Pfaden für colorful und P5 mit drei Pfaden für ball:

P4

1. Colorful —> Adjective —> (Color) —> [Abounding in contrast or variety of bright colors] <(Physical Object) v (Social Activity)>

2. Colorful —> Adjective —> (Evaluative) —> [Having distinctive character, vividness, or picturesqueness] <(Aesthetic Object) v (Social Activity)>

P5

1. Ball —> Noun concrete —> (Social activity) —> (Large) —> (Assembly) —> [For the purpose of social dancing]

2. Ball —> Noun concrete —> (Physical Object) —> [Having globular shape]

3. Ball —> Noun concrete —> (Physical Object) —> [Solid missile for projection by an engine of war]

(S. 198)

Die "amalgamation" von P4 und P5 verläuft nun mittels der Projektionsregel R1, welche besagt, daß in einer ‚head‘-‚modifier‘-Konstruktion mit einem N als "head" und einem A als "modifier" als Amalgam nur die "grammatical markers" des "heads" übrig bleiben, während die des "modifiers" getilgt werden und die sonstigen Merkmale sich addieren [12]. Da die Kombination des zweiten Pfads von P4 mit dem zweiten und dritten Pfad von P5 eine semantische Anomalie ergibt, weil der zweite Pfad von P4 beim "modifier" die Merkmale (Aesthetic Object) oder (Social Activity) verlangt, kommt es auf der nächsthöheren Ebene zu vier Pfaden des Amalgams P6, das dann z. B. als ersten Pfad

1. Colorful + Ball —> Noun concrete —> (Social activity) —> (Large) —> (Assembly) —> (Color) [[Abounding in contrast or variety of bright colors] [For the purpose of social dancing]]

(A. a. O., S. 199)

enthält usw. Mit weiteren Projektionsregeln wird diese Menge von Pfaden dann immer weiter mit den übrigen Konstituenten amalgamiert, bis am Ende vier mögliche Lesarten des Satzes — als vier Pfade dargestellt — die Interpretation des gesamten Satzes liefern (vgl. S. 204).

 

Die Konzeption der semantischen Merkmale bei Katz und Fodor steht im Zentrum der Kritik von D. Bolinger (1965). Er bemängelt besonders, daß die Unterscheidung zwischen "semantic markers" und "distinguishers" nicht klar und konsequent durchgeführt sei. Das Argument, daß zur Desambiguierung von bachelor in dem Satz The old bachelor finally died (Young) aus dem "distinguisher" der Bedeutung ‘Knappe’ isoliert und als "marker" eingefügt werden muß, wendet Bolinger mittels zahlreicher desambiguierender Sätze auch auf die anderen von Katz und Fodor für bachelor angesetzten "distinguisher" an (vgl. Bolinger 1965, S. 558—560). So zeigt er z. B. an dem Satz The seven-year-old bachelor sat on the rock, daß die Merkmale (Human), (Male) und [who has never married] nicht ausreichen, um die Bedeutung ‘Junggeselle’ zu definieren. Nach der erforderlichen Erweiterung des "distinguishers" wird aus diesem also der "marker" (Adult) extrahiert. Unter Berücksichtigung von Problemen wie der wünschenswerten Symmetrie der "marker" und der Miteinbeziehung sogenannter "latent markers" (vgl. a. a. O., S. 562f.) gelingt es ihm, die vier Pfade von bachelor ausschließlich mit Hilfe von "semantic markers" darzustellen und somit die theoretisch unbefriedigende Bedeutungsbeschreibung durch zwei verschiedene Arten von Merkmalen zugunsten einer einheitlichen Form aufzugeben:

(S. 563)

 

U. Weinreichs Aufsatz "Explorations in semantic theory" (1966) ist als Entgegnung auf den Entwurf von Katz und Fodor zu verstehen. Weinreich kritisiert besonders die von Katz und Fodor propagierte Trennung von Syntax und Semantik, die in dem Slogan "Synchronic linguistic description minus grammar equals semantics" (Katz & Fodor 1963, S. 172) einen griffigen Ausdruck fand. Weinreichs Ansatz ist von der Idee einer tiefen wechselseitigen Durchdringung von Syntax und Semantik geprägt, da seiner Meinung nach eine semantische Theorie, die die Syntax als eine von der Semantik getrennte Komponente außer acht läßt, der Beschreibung der sprachlichen Kompetenz nicht gerecht wird:

Meanwhile, the construction of a superficially compatible, but fundamentally asyntactic theory (KF) has contributed virtually nothing to the explication of the semantic competence of language users. (Weinreich 1966, S. 469)

Neben der grundsätzlichen Kritik (vgl. auch a. a. O., S. 397—416) an Positionen von Katz und Fodor ist in diesem Rahmen Weinreichs unterschiedliche Konzeption der Lexikoneinträge und der semantischen Merkmale von besonderer Bedeutung. Ein Lexikoneintrag setzt sich demnach zusammen aus einer Dreiergruppe von Merkmalen (P, G, µ), wobei P die Menge der phonologischen Merkmale, G die der syntaktischen und µ die der semantischen Merkmale darstellt. Im Gegensatz zu den Lexikoneinträgen nach Katz und Fodor werden polyseme oder homonyme Wörter nicht als sich verzweigende Pfade eines Eintrags dargestellt, sondern als zwei getrennte Einträge mit identischen P und G und verschiedenen µ:

(Weinreich 1966, S. 418)

Weinreich unterscheidet nicht zwischen verschiedenen Arten von semantischen Merkmalen, sondern zwischen zwei grundlegenden Arten von Relationen, in denen die Merkmale zueinander stehen können, nämlich in einer geordneten oder in einer ungeordneten. Die ungeordneten Mengen werden "cluster" genannt, die geordneten "configuration" (vgl. S. 418). Wenn a und b semantische Merkmale sind und eine ungeordnete Relation durch Kommata zwischen ihnen und eine geordnete durch einen Pfeil symbolisiert sind, so gilt (S. 419):

Cluster (a, b) = (b, a)

Configuration (a —> b) ungleich (b —> a)

Wenn beispielsweise die semantischen Komponenten von engl. daughter ‘female’ und ‘offspring’ sind, so bilden sie ein "cluster", während ‘furniture’ und ‘sitting’ als Merkmale von chair eine "configuration" darstellen, weil zwischen ihnen eine geordnete Relation (‘Möbel zum Sitzen’) besteht (vgl. ebd.). "Cluster" von Merkmalen können wiederum "configurations" bilden. So lassen sich die semantischen Strukturen von komplexen Ausdrücken darstellen. Die semantische Struktur der Sätze einer Sprache hat prinzipiell dieselbe Form. Auf der Basis der Unterscheidung von "cluster" und "configuration" führt Weinreich eine Typologie von (syntaktischen) Konstruktionen ein, die er wiederum in "linking constructions" und "non-linking constructions" einteilt, je nach dem ob die Merkmale einer Konstruktion als Ergebnis der Merkmale ihrer Bestandteile ein "cluster" oder eine "configuration" bilden (vgl. S. 419—429).

Des weiteren enthält Weinreichs Vorschlag für eine semantische Theorie eine Anzahl von Regeln, die das Zusammenspiel der Merkmale in den unterschiedlichen Konstruktionen bzw. Sätzen, und damit letztlich deren Bedeutung, beschreiben (vgl. S. 455—467).

 

M. Bierwischs Untersuchung einiger deutscher Adjektive aus dem Bereich der Beschreibung räumlicher Zustände oder Verhältnisse (1967) steht exemplarisch für ein Projekt mit größerem Anspruch, nämlich für die Suche nach einem "universal set of semantic primes" (a. a. O., S. 2). In einer zu beschreibenden Sprache finden diese "semantic primes" ihren Niederschlag in "semantic markers", deren Ordnung als Baumdiagramm im Sinne der Dependenzgrammatik dargestellt wird (vgl. S. 22—25). Ein Lexikoneintrag enthält nun die (Baum-)Struktur der grammatischen und semantischen Merkmale, deren Zweige nicht — wie bei Katz und Fodor — verschiedene Bedeutungen eines Eintrags repräsentieren, sondern die (hierarchischen) Relationen zwischen den Merkmalen einer Bedeutung, sowie Regeln, die die Kombinierbarkeit mit den Merkmalsstrukturen anderer Einträge bestimmen.

 

Im allgemeinen ist für die oben skizzierten Ansätze die Untersuchung (möglicher) paradigmatischer Strukturen im Lexikon nicht von Interesse. Die Zusammenstellung und die kontrastive Untersuchung von Adjektiven mit ähnlichen Bedeutungen bei Bierwisch hat lediglich eine heuristische Funktion bei der Gewinnung der Merkmale. Die lexikalische Semantik im Rahmen der generativen Transformationsgrammatik ist überhaupt vorrangig an den Strukturen lexikalischer Einträge und an den Regeln zur syntagmatischen Verknüpfung dieser Strukturen interessiert. Werden verschiedene Bedeutungen einer gemeinsamen kontrastiven Untersuchung unterzogen, so sind dies in der Regel verschiedene Bedeutungen, das heißt verschiedene Pfade eines einzigen sich verzweigenden Lexikoneintrags. Mit H. Geckeler läßt sich sagen, daß "die Baumstrukturen […] mit der Strukturierung eines Wortfeldes prinzipiell nichts zu tun" haben (ders. 1971, S. 230f.). Die paradigmatischen Beziehungen der lexikalischen Einheiten untereinander werden zugunsten des Versuchs einer möglichen Beschreibung einer Satzbedeutung vernachlässigt:

It is undoubtedly important to understand how the meaning of a word in a vocabulary is determined by the meanings of other words in the same vocabulary; but an account must still be given of the way in which the meaning of a sentence is composed out of the meanings of individual words. (Weinreich 1966, S. 468)

 

2.1.3 Merkmalsreduktionismus

Die Grundidee des Merkmalsreduktionismus, die zur Bedeutungsbeschreibung erforderlichen Merkmale auf ein möglichst beschränktes Inventar zu reduzieren, findet sich implizit oder explizit auch in den meisten der oben dargestellten Ansätze in der Form von beschreibungsökonomischen Überlegungen. So heißt es z. B. bei Hjelmslev (1943/1974):

Je niedriger die Anzahl der Inhaltsfiguren gemacht werden kann, in desto höherem Grad ist es möglich, der Forderung des Empirieprinzips nach der einfachst möglichen Beschreibung entgegenzukommen. (S. 68)

[…]

Führt z.B. eine mechanische Inventarisierung auf einer gegebenen Stufe der Prozedur zur Registrierung der Größen ‘Bulle’, ‘Kuh’, ‘Mann’, ‘Frau’, ‘Junge’, ‘Mädchen’, ‘Hengst’, ‘Stute’, ‘Rind’, ‘Mensch’, ‘Kind’, ‘Pferd’, ‘er’ und ‘sie’, sollen ‘Bulle’, ‘Kuh’, ‘Mann’, ‘Frau’, ‘Junge’, ‘Mädchen’, ‘Hengst’ und ‘Stute’ aus dem Elementeninventar ausgeschieden werden, wenn sie sich eindeutig als relationsetablierte Einheiten erklären lassen, die ausschließlich auf der einen Seite ‘er’ oder ‘sie’ und auf der anderen Seite jeweils ‘Rind’, ‘Mensch’, ‘Kind’, ‘Pferd’ enthalten. (S. 70)

Auch innerhalb der Semantik der generativen Transformationsgrammatik, so z. B. bei M. Bierwisch (siehe oben Kapitel 2.1.2), wurden Merkmale als "semantic primes" bezeichnet. Spätestens seit Erscheinen des Buchs "Semantic Primitives" (1972) ist aber die Suche nach solchen grundlegenden irreduziblen Merkmalen untrennbar mit dem Namen der Autorin A. Wierzbicka verknüpft. Sie beruft sich nicht nur auf zeitgenössische Entwicklungen in der semantischen Theorie, sondern sieht ihr Programm der Eruierung von "semantic primitives" bereits in der Philosophie des 17. Jahrhunderts bei Autoren wie R. Descartes, B. Pascal, A. Arnauld, G. W. Leibniz und J. Locke präformiert.

Das Benutzen einer natürlichen Sprache ist für A. Wierzbicka vergleichbar mit dem Prozeß einer ‚Übersetzung‘ von der lingua mentalis in diese Sprache:

In using any natural language, we in effect make a translation into that language from the lingua mentalis. For any sentence from the lingua mentalis an equivalent can be constructed from natural language, using exclusively those elementary expressions that are directly comparable with elements of the semantic system of the mind.

(A. a. O., S. 25)

Zum Zweck einer semantischen Beschreibung einer Einzelsprache ist es nun Wierzbickas Ziel, eine die lingua mentalis repräsentierende Metasprache zu entwerfen. Dazu eigneten sich jedoch die "formulae of symbolic logic and matrices of differential features" (S. 1) nicht, da sie nichts erklärten, sondern vielmehr selbst der Erklärung bedürften. Die von A. Wierzbicka geforderte intuitiv verständliche Metasprache setzt sich zusammen aus einem minimalen Inventar von universell gültigen "semantic primitives" bzw. aus sich auf diese reduzierbaren Ausdrücken. Deren Eruierung erfolgt durch Introspektion. Es werden Bedeutungsdefinitionen gegeben, die sich aus semantisch möglichst einfachen Konzepten zusammensetzen. Diese werden, wenn möglich, durch wiederum einfachere ersetzt, bis man zu nicht mehr reduzierbaren "indefinables" gelangt. Diese sind dann die "clear, universal, human ideas that exist, at the same time, as distinct words or expressions in all natural languages" (S. 15). Aus diesen "indefinables" setzt sich die Liste der "semantic primitives" zusammen:

want

something

don’t want (diswant)

someone (being)

feel

I

think of

you

imagine

world

say

this

become

 

be a part of

 

(A. a. O., S. 15f.)

Diese Liste hat den Status einer Arbeitshypothese und erfuhr im Lauf zahlreicher Veröffentlichungen eine ständige Revision durch die Autorin. Es zeigte sich, daß noch weitere Konzepte sich als nicht definierbar erwiesen und in die Liste der "semantic primitives" aufgenommen werden mußten, so daß diese mittlerweile (Wierzbicka 1998, S. 144) 59 Elemente (in der folgenden Tabelle durch Versalien ausgezeichnet) enthält:

Substantives

I, YOU, SOMEONE, SOMETHING (THING), PEOPLE, BODY

Determiners

THIS, THE SAME, OTHER

Quantifiers

ONE, TWO, SOME, MANY/MUCH, ALL

Attributes

GOOD, BAD, BIG, SMALL

Mental predicates

THINK, KNOW, WANT, FEEL, SEE, HEAR

Speech

SAY, WORD, TRUE

Actions, events, movements

DO, HAPPEN, MOVE

Existence and possesion

THERE IS, HAVE

Life and death

LIVE, DIE

Logical concepts

NOT, MAYBE, CAN, BECAUSE, IF

Time

WHEN (TIME), NOW, AFTER, BEFORE, A LONG TIME, A SHORT TIME, FOR SOME TIME

Space

WHERE (PLACE), HERE, ABOVE, BELOW, FAR, NEAR, SIDE, INSIDE

Intensifier, augmentor

VERY, MORE

Taxonomy, partonomy

KIND OF, PART OF

Similarity

LIKE

Semantische Definitionen setzen sich nach Möglichkeit aus diesen "semantic primitives" zusammen, können aber auch Elemente enthalten, die sich ihrerseits wiederum auf einfachere Definitionen reduzieren lassen. Wierzbickas Definition von engl. girl lautet z. B. ‘young human being that one thinks of as becoming a woman’. Woman wird erklärt als ‘human being that could be someone’s mother’, mother ist zu ersetzen durch ‘human being inside whose body (once) there was something that was becoming someone’s body’ usw. (vgl. dies. 1972, S. 41—46). Setzt man diese Definitionen konsequent ineinander ein, erhält man unter Umständen recht lange und umständliche Definitionen, die aber zirkuläre Erklärungen, wie sie in Wörterbüchern häufig anzutreffen sind, vermeiden (vgl. S. 28) und dem Streben nach Einfachheit nicht widersprechen: Wierzbickas Ziel ist schließlich eine Bedeutungsbeschreibung mittels eines minimalen Inventars von Grundelementen, und nicht das Erstellen minimaler Distinktionen. Eine solche lediglich an Distinktion interessierte Analyse — wie z. B. die Ansätze der generativen Grammatik mittels "semantic markers" — liefert nicht nur keine vollständige Bedeutungsbeschreibung, sondern widerspricht auch häufig A. Wierzbickas Forderung nach intuitiver Verstehbarkeit der Metasprache, wie u. a. aus ihrer Kritik an M. Bierwisch hervorgeht (vgl. Wierzbicka 1972, S. 103f.). Für eine Bedeutungsbeschreibung ist wohl die einfachste Alternative zu wählen; es stehen aber keine einfacheren als die oben beschriebenen zur Verfügung (vgl. a. a. O., S. 41).

Es gibt allerdings auch nicht weiter reduzierbare "indefinables", die nicht als "semantic primitives" angesehen werden. Dazu zählen z. B. "species names" wie cat, rose, apple usw., für die Wierzbicka keine Definition anführen kann und die auch selbst nicht Komponenten von komplexeren Bedeutungen sind. Diese Ausnahmen werden damit erklärt, daß sie Eigennamen ähnlich seien. Da sich nun ein Ausdruck wie the man called John auf ‘the man thinking of whom we say ‚John‘’ reduzieren läßt, ergäbe die Definition für cat ‘an animal thinking of which one would say ‚cat‘’ (vgl. S. 21f.).

In einer späteren Veröffentlichung (Wierzbicka 1985) wird das Problem auf eine andere Weise gelöst: Die Beschreibung von cats besteht aus der Zuordnung zur entsprechenden Kategorie ‘A KIND OF ANIMAL’ und der Formel ‘IMAGINING ANIMALS OF THIS KIND PEOPLE COULD SAY THESE THINGS ABOUT THEM:’, an die sich zahlreiche nach den Rubriken HABITAT, SIZE, APPEARENCE, BEHAVIOR und RELATION TO PEOPLE geordnete Sätze anschließen, welche die ‚semantische Kompetenz‘ des Muttersprachlers explizieren sollen. Zur Illustration seien hier nur einige wenige dieser möglichen Aussagen über Katzen wiedergegeben (vgl. S. 167—171):

they live with people, near or in people’s houses and people look after them

they are much smaller than people

they are soft and furry, pleasant to stroke

they cover their shit with earth, scratching the ground after they have done it

they can be useful to people because they can catch and kill small unwanted creatures of a certain kind which live in or near people’s houses and which eat things that people keep for people to eat

Die zur Spezifizierung dienenden Sätze sind zwar recht einfach, enthalten aber ein Inventar von Elementen, das weit über das der "semantic primitives" hinausgeht. Es handelt sich dabei nicht mehr um die sich direkt aus den "primitives" speisende Metasprache, sondern um "an expanded version of it, containing not only semantic primitives, but also near-primitives which have previously been defined in terms of the primitives" (Wierzbicka 1985, S. 9). Mit A. Wierzbickas Adaption von Grundgedanken der Prototypensemantik (vgl. unten Kapitel 2.2) geht eine stärkere Berücksichtigung des enzyklopädischen Wissens in Gestalt der zahlreichen über das Definiendum sagbaren Sätze einher.

Über Beziehungen zwischen einzelnen lexikalischen Einheiten macht A. Wierzbicka keine expliziten Aussagen. Es geht ihr nicht um eine distinktive Analyse, sehr wohl aber untersucht sie Bedeutungen in Gruppen, deren Elemente gemeinsame Merkmale aufweisen. In dieser Hinsicht steht ihre Analyse einem Grundgedanken der strukturellen Semantik nahe, nämlich der Annahme eines ein lexikalisches Feld konstituierenden Archisemems (siehe oben Kapitel 2.1.1.1). So wird z. B. bei angel, devil, centaur, elf, God etc. ‘being’ (‘someone’) als "common factor" ausgemacht und daher als primär angesehen (1972, S. 13). Wierzbickas Analyse beinhaltet also möglicherweise implizit die Vorstellung, daß diese Ausdrücke das ‚Feld‘ der ‘beings’ bilden.

 

2.2 Prototypensemantik

Wie schon im Kapitel 2.1 hält sich die Darstellung hinsichtlich der terminologischen und graphischen Präsentation der Ansätze möglichst getreu an die jeweiligen Vorgaben. Es soll an dieser Stelle nicht um eine kritische Würdigung der Konzeptionen, Beispielanalysen und der Terminologie der einzelnen Autoren gehen. Diese Fragen sollen erst in Kapitel 3 im Vergleich mit den bereits dargestellten Ansätzen aus dem Bereich der Merkmalssemantik erörtert werden und fließen in den folgenden Ausführungen nur am Rande ein.

Dennoch wird die Art der Darstellung sich von der in Kapitel 2.1 in einigen Punkten unterscheiden. Die Argumentation der referierten Ansätze, die sich häufig als Gegenentwürfe zur damals gültigen Lehrmeinung verstehen, ist selbst teilweise dialogisch, und so fließen bereits in diesem Kapitel Gedanken ein, die Elemente der Prototypensemantik mit Grundideen der Merkmalssemantik kontrastieren.

G. Kleiber unterscheidet eine "Standardversion" und eine "erweiterte Version" der Prototypensemantik (vgl. ders. 1990/1993, S. 29). Die "Standardversion" basiert vor allem auf den früheren Arbeiten von Eleanor Rosch und von Wissenschaftlern aus ihrem Umfeld. Die "erweiterte Version" beruht auf einer "Kursänderung" (Kleiber 1990/1993, S. 29), die Rosch Ende der 70er Jahre vornahm.

In den folgenden Ausführungen wird diese Unterscheidung als Orientierungshilfe benutzt, um die im Detail bisweilen recht heterogenen Ansätze überhaupt zusammenfassend in eine Ordnung bringen zu können.

Die Übernahme der Terminologie Kleibers bedeutet allerdings nicht, daß die folgenden Ausführungen der Einteilung Kleibers in jeder Hinsicht folgen. Ob diese Unterscheidung sinnvoll ist, wird im Kapitel 2.2.2.2 diskutiert werden.

Die folgenden Ausführungen orientieren sich vorläufig zur Unterscheidung der beiden Versionen an Wesen und Stellung des ‚Prototypen‘-Begriffs in den jeweiligen Arbeiten. Die Auswahl der berücksichtigten Autoren erfolgte auch mit der Absicht, darzustellen, was heutzutage in der Linguistik als ‚Standard‘ angesehen wird (vgl. Kleiber 1990/1993, S. 29). Deshalb liegt auf der "Standardversion" auch der Schwerpunkt der Darstellung; innerhalb der "Standardversion" wird der Darstellung der Schriften E. Roschs ein besonderer Platz eingeräumt, um diejenigen Entwicklungen exemplarisch nachzeichnen zu können, welche die Grundideen der Prototypensemantik kontinuierlich durchlaufen haben.

Im Kapitel 2.2.2 sollen lediglich die "Kursänderung" — Roschs vermeintliche Selbstrevision — und die unmittelbar daraus resultierenden Entwicklungen kurz umrissen werden.

In den folgenden Ausführungen werden im allgemeinen die Begriffe ‚Kategorie‘ und ‚Vertreter (einer Kategorie)‘ verwendet, wo die verschiedenen dargestellten Ansätze bisweilen divergieren und neben "category" und "member" auch von "concept" und "instance" bzw. "example", "exemplar", "element" oder "object" die Rede ist. Dieser ‚Kategorien‘-Begriff ist ein sehr vager und wird auf die unterschiedlichsten Fragestellungen angewendet. So kann z. B. von einem konkreten Stuhl als einem Vertreter der Kategorie STUHL geredet werden, während in einem anderen Zusammenhang das Wort Stuhl als Vertreter der Kategorie SITZMÖBEL bezeichnet wird. Die notwendige Unterscheidung zwischen psychologischer oder philosophischer Kategorisierung und den Übertragungen dieser Konzepte auf den Bereich der lexikalischen Semantik kann vorerst nicht konsequent durchgeführt werden.

 

2.2.1 Die "Standardversion" der Prototypensemantik

Im folgenden werden Ansätze verschiedener Autoren präsentiert, die Grundideen der "Standardversion" darstellen. Eine knappe Zusammenstellung der Ergebnisse wird unten im Kapitel 2.2.1.2 gegeben.

 

2.2.1.1 Ansätze

Für die Etablierung des Prototypenbegriffs in der Semantik ist E. Roschs Aufsatz "On the internal structure of perceptual and semantic categories" (1973b) von zentraler Bedeutung. Ihr Ziel war es, zu zeigen, daß perzeptuelle und semantische Kategorien, entgegen den bis dahin verbreiteten Auffassungen in der Psychologie wie in der Linguistik, gleichermaßen strukturiert sind [13]. Die Strukturierung besteht darin, daß bestimmte Vertreter einer Kategorie für die Bedeutung der Kategorie eine zentralere Position einnehmen als andere:

Categories are composed of a "core meaning" which consists of the "clearest cases" (best examples) of the category, "surrounded" by other category members of decreasing similarity to that core meaning. (A. a. O., S. 112)

So wäre beispielsweise ein Apportierhund ("retriever") ein ‚besserer‘ Vertreter der Kategorie HUND als ein Pekinese (vgl. S. 111). Die Untersuchung widmet sich zunächst mit sinnlich wahrnehmbaren Kategorien wie Farben und Formen einem eher der Psychologie zugehörigen Gebiet; in einem zweiten Teil wird dann geprüft, ob sich die Theorien zur Strukturiertheit von Kategorien auch auf den Bereich der Semantik übertragen lassen.

Als "clearest cases" der als universell postulierten perzeptuellen Kategorien nimmt Rosch im Fall der Farben diejenigen an, welche in vielen verschiedenen Sprachen durch basale Farbbezeichnungen ausgedrückt werden, im Fall der Formen die von der Gestaltpsychologie als Grundformen angesehenen Gebilde wie Kreis, Quadrat usw. (vgl. Rosch 1973b, S. 113f.).

Die Untersuchung auf dem Gebiet der Farben basiert auf den bereits von B. Berlin und P. Kay (1969) in Opposition zu der Sapir-Whorf-Hypothese als universell postulierten "focal colors" im Kontinuum der Farbtöne. Berlin und Kay vertraten folgende These: "color categorization is not random and the foci of basic color terms are similar in all languages" (a. a. O., S. 10). Gewährsleute für viele verschiedene Sprachen wählten übereinstimmend dieselben Bereiche des Farbspektrums als beste Beispiele für die Farbwörter ihrer jeweiligen Sprache. So wurde ein Inventar von elf "basic color categories" ermittelt: WHITE, BLACK, RED, GREEN, YELLOW, BLUE, BROWN, PURPLE, PINK, ORANGE und GREY (vgl. S. 2). Rosch benutzte für die Überprüfung ihrer These die acht chromatischen (RED, GREEN, YELLOW, BLUE, BROWN, PURPLE, PINK und ORANGE) der elf nach Berlin und Kay zentralen Farbkategorien in einem Lernexperiment mit Angehörigen der in Papua-Neuguinea beheimateten Ethnie der Dani.

In der Sprache der Dani gibt es keine eigentlichen Bezeichnungen für die Grundfarben, sondern lediglich zwei Ausdrücke, die das Spektrum aufteilen, und zwar nicht nach dem Farbton, sondern nach dem Helligkeitswert der Farbe (vgl. Rosch 1973b, S. 115f.). Verschiedenen Gruppen von Probanden wurden nun aus jeweils drei Farbkarten bestehende Reihen vorgelegt, deren Farbwerte leicht variierten. Die verschiedenen Reihen wurden mit Sippennamen aus der Sprache der Dani belegt, welche die Probanden als quasi neu in ihre Sprache eingeführte Farbbezeichnungen zu lernen hatten. Die einzelnen Reihen teilten sich in drei Gruppen auf: In der ersten Gruppe ist die zentrale Farbe eine "focal color", in der zweiten Gruppe setzt sich eine Reihe nur aus ‚Zwischentönen‘ zusammen und die Reihen der dritten Gruppe enthalten zwar eine "focal color", aber nicht als zentrale, sondern als periphere Farbe. In einer zweiten Versuchsanordnung variierten die zentralen und peripheren Farben einer Reihe nicht hinsichtlich ihres Farbtons, sondern hinsichtlich ihres Helligkeitswertes.

Die Probanden mußten nun so lange lernen, bis sie die acht Reihen jeweils einer Gruppe den richtigen Bezeichnungen zuordnen konnten. Es stellte sich heraus, daß die "focal colors" schneller gelernt wurden als andere Farben, auch wenn sie innerhalb ihrer Reihe als peripheres Element fungierten. Des weiteren fiel es den Dani leichter, Reihen zu lernen, in denen eine "focal color" als zentrales Element fungiert, als solche, deren zentrale Farbe eine andere war. Die Probanden vermochten aber nicht explizit zu sagen, welche der drei Farbkarten die typischste Farbe einer Reihe darstellt (vgl. a. a. O., S. 123).

Die experimentelle Untersuchung der perzeptuellen Kategorie der Formen anhand von teilweise verfremdeten Zeichnungen von Quadraten, Kreisen und gleichseitigen Dreiecken wurde ebenfalls bei den Dani durchgeführt, da ihnen auch einfache geometrische Grundformen fremd sind. Die Ergebnisse sind mit denen der Farbexperimente vergleichbar: ‚Gute‘ Formen ließen sich leichter lernen als verzerrte. Ein Unterschied bestand aber darin, daß die Probanden sehr wohl beurteilen konnten, welche die typischsten Elemente einer Kategorie sind (vgl. S. 123—129).

Die Ergebnisse im perzeptuellen Bereich gaben Anlaß zu folgender Vermutung:

The general concept of internal structure of categories (a focal center and nonfocal surround) may be applicable both to other perceptual domains and to "nonperceptual" semantic categories. (S. 130)

Um die Hypothese von der gleichartigen Strukturiertheit semantischer Kategorien zu überprüfen, führte E. Rosch zwei Versuche durch. In dem ersten Versuch wurden 113 Studenten an der University of California gebeten, einen Fragebogen auszufüllen (vgl. auch im folgenden a. a. O., S. 131—135). Auf diesem Fragebogen waren unter den acht Kategorien FRUIT, SCIENCE, SPORT, BIRD, VEHICLE, CRIME, DISEASE und VEGETABLE in zufälliger Reihenfolge jeweils sechs Vertreter einer Kategorie aufgelistet, die bereits zuvor in dem einflußreichen Experiment von W. F. Battig und W. E. Montague (1969) als Vertreter dieser Kategorien ausgemacht und einem Frequenzwert zugeordnet worden waren.

Battig und Montague hatten insgesamt 442 Studenten der Universitäten Maryland und Illinois gebeten, zu 56 Kategorien innerhalb von 30 Sekunden pro Kategorie möglichst viele Vertreter aufzulisten [14]. Die Auswertung ergab u. a. eine große Übereinstimmung zwischen den Probandengruppen der beiden Universitäten hinsichtlich der Frequenz bestimmter Nennungen. Der Frequenzwert gibt an, wie oft der Vertreter einer Kategorie als Antwort auf die Nennung des Oberbegriffs gegeben wurde.

E. Rosch wählte nun die sechs Vertreter einer jeden Kategorie so aus, daß die verschiedenen Bereiche der Battig-und-Montague-Frequenz ("B & M frequency") gleichmäßig repräsentiert waren und sie selbst das Gefühl hatte, eine möglichst breit gestreute Auswahl hinsichtlich der vermuteten Positionierung der Vertreter im Zentrum bzw. am Rand der Kategorien zu erhalten. Die Probanden sollten nun auf einer Skala ankreuzen, zu welchem Grad die Vertreter gute Beispiele ihrer Kategorie darstellten [15]. Die Ergebnisse waren eindeutig: Die Probanden stimmten in hohem Maße darin überein, welche die "best examples" einer Kategorie sind. Auch die Rangfolge der Vertreter ("exemplariness rank") zeigte weitgehende Entsprechungen mit den Ergebnissen von Battig und Montague. Für die Kategorien FRUIT und BIRD ergibt sich beispielsweise folgendes Bild (vgl. Rosch 1973b, S. 133):

Category

Member

B & M frequency

"Exemplari-

ness" rank

Fruit

Apple

Plum

Pineapple

Strawberry

Fig

Olive

429

167

98

58

16

3

1.3

2.3

2.3

2.3

4.7

6.2

Bird

Robin

Eagle

Wren

Chicken

Ostrich

Bat

377

161

83

40

17

3

1.1

1.2

1.4

3.8

3.3

5.8

In einem zweiten Versuch (vgl. auch im folgenden a. a. O., S. 135—140) wurden 24 Erwachsene und 19 Kinder im Alter von 9 bis 11 Jahren mit 96 Sätzen konfrontiert, die eine Kategorie und wechselweise einen Vertreter dieser oder einer anderen Kategorie enthielten, so daß je zur Hälfte wahre Sätze (z. B. A pear is a fruit) bzw. falsche Sätze (z. B. A pear is a metal) entstanden. Für jede Kategorie wurden zwei zuvor als zentral und zwei als peripher eingestufte Vertreter je einmal in einem wahren und einmal in einem falschen Satz untergebracht. Die Probanden mußten nun entscheiden, ob es sich um einen wahren oder falschen Satz handelte, wobei die Zeit gemessen wurde, welche die Probanden für ihre Entscheidung benötigten.

Es zeigte sich, daß wahre Sätze, die einen zentralen Vertreter enthielten (z. B. A robin is a bird), von beiden Gruppen im Durchschnitt signifikant schneller korrekt beurteilt wurden als solche mit einem peripheren Vertreter (z. B. A chicken is a bird). Die Gruppe der Kinder unterschied sich von den Erwachsenen darin, daß sie deutlich mehr Fehler bei der Beurteilung von wahren Sätzen mit peripheren Vertretern machten als bei solchen mit zentralen Vertretern, während die Erwachsenen in beiden Fällen annähernd gleich wenig Fehler machten. Daraus leitet Rosch ab, daß die peripheren Vertreter einer Kategorie im Lauf des Spracherwerbs später erlernt werden als die zentralen.

Rosch sieht ihre Hauptthese über die interne Struktur von Kategorien durch die Ergebnisse der Experimente gestützt:

The argument has been made that psychological categories have internal structure. By structure is meant that categories possess a core meaning (or focal examples) and that instances of categories differ in the degree to which they fit the core meaning or are like the focal examples. (A. a. O., S. 140)

Die Struktur der Kategorien wird nie genauer bestimmt als durch die recht vage Unterscheidung von Zentrum und Peripherie bei graduell abgestufter Ähnlichkeit der peripheren Elemente mit den zentralen. Das Zentrum einer Kategorie wird durch eine Anzahl sich gegenseitig erklärender Begriffe charakterisiert: "core meaning", "good member of the category", "central member", "best example", "focal example" usw. Damit gleichbedeutend ist die Charakterisierung des Zentrums als "natural prototype", die in der Folgezeit zum namengebenden Schlagwort und zentralen Terminus eines semantischen Neuansatzes wurde, nämlich der sich im wesentlichen auf Rosch berufenden Prototypensemantik. In dem Aufsatz "On the internal structure of perceptual and semantic categories" wird der Begriff "natural prototype" allerdings nie explizit zur Erklärung der Struktur dezidiert semantischer Kategorien herangezogen, sondern taucht stets nur in Verbindung mit "perceptual categories" auf. Die Ausdehnung des genuin psychologischen Beschreibungsansatzes auf das Gebiet der (linguistischen) Semantik ist zwar erklärtes Ziel von E. Rosch, aber explizit beinhaltet ihre Formulierung der These nur, daß perzeptuelle Kategorien eine durch den Begriff des Prototyps beschreibbare Struktur aufweisen, und daß semantische Kategorien ebenfalls eine Struktur aufweisen (aber nicht notwendigerweise dieselbe):

The nature of the structure of the perceptual categories of color and form is determined by perceptually salient "natural prototypes"; and […] nonperceptual semantic categories also have internal structure which affects the way they are processed.

(A. a. O., S. 144)

Die Zugehörigkeit der Vertreter zu einer Kategorie wird in den vorgeführten Experimenten nicht weiter problematisiert und als unzweifelhaft vorausgesetzt; es wird aber angedeutet, daß dieses Problem mit Hilfe von (definitorischen) Eigenschaften einer Kategorie gelöst werden könnte: Rosch postuliert zwei verschiedene Arten von "attributes": solche, die den Prototypizitätsgrad eines Vertreters einer Kategorie bestimmen und solche, welche die Zugehörigkeit zur Kategorie klären (S. 141):

In the first place, the attributes whiche define an instance as a category member and the attributes which define it as a good or less good member may be different.

Da der oben wiedergegebene Aufsatz (Rosch 1973b) die Anwendung des ‚Prototypen‘-Begriffs auf semantische Kategorien strenggenommen nicht rechtfertigt, soll nun anhand weiterer Arbeiten der Autorin untersucht werden, wie dieser Begriff überhaupt ins Zentrum eines Neuansatzes zur lexikalischen Semantik gelangte.

In den noch unter ihrem früheren Namen Eleanor Rosch Heider veröffentlichten Aufsätzen aus den frühen 70er Jahren (vgl. Heider 1971, dies. 1972 und dies. & Olivier 1972) taucht der Begriff ‚Prototyp‘ gar nicht auf. Untersucht werden kognitionspsychologische Aspekte der Farbwahrnehmung. Die Verknüpfung dieser Untersuchungen mit linguistischen Fragestellungen lag allerdings nahe, da die Experimente zur Erforschung der menschlichen Farbwahrnehmung zum großen Teil die Verwendung und das Erlernen von Bezeichnungen für Farben in natürlichen Sprachen als Indiz für kognitive Prozesse untersuchten. Es wird auch bereits die Vermutung geäußert, die kognitive Verarbeitung semantischer Kategorien könnte ebenso wie die der perzeptuellen Kategorien "through generalization from focal exemplars" (Heider 1971, S. 455) vonstatten gehen.

In den Arbeiten Roschs taucht der Begriff "(natural) prototype" zum ersten Mal (1973a) auf. Die Experimente widmen sich ausschließlich perzeptuellen Kategorien, nämlich Farben und Formen. Wieder wird die Vermutung geäußert, die Kategorien anderer Bereiche könnten ähnlich strukturiert sein — diesmal aber unter Zuhilfenahme des Prototypenbegriffs:

Even in nonperceptual domains, artificial prototypes (the best examples of nonperceptual categories) once developed, may affect the learning and processing of categories in that domain in a manner similar to the effects of natural prototypes.

(A. a. O., S. 349)

In "Universals and cultural specifics in human categorization" (Rosch 1975a) werden keine neuen Experimente präsentiert. Die Argumentation stützt sich auf das Material von Rosch (1973b), die Formulierung hinsichtlich der Frage nach der Strukturiertheit semantischer Kategorien klingt aber wesentlich selbstbewußter:

We have further argued that even semantic categories […] have a structure similar to that of perceptual categories for, like perceptual categories, have prototypes and gradients of category membership. (Rosch 1975a, S. 192)

Die neuen Experimente, die E. Rosch (1975b) präsentiert, zeigen, daß bei der kognitiven Verarbeitung von Farben, Linien und Zahlen sogenannte "reference points" eine wichtige Rolle spielen. Das Konzept der "reference points" ist weitgehend identisch mit der oben (vgl. Rosch 1973b) referierten Vorstellung von einem "natural prototype". Über semantische Kategorien wird nun (Rosch 1975b) gesagt, daß deren Strukturiertheit bereits erwiesen sei [16]; ob sich diese Struktur jedoch als eine von "reference points" (bzw. prototypischen Vertretern) dominierte beschreiben läßt, wird als eine noch zu beantwortende Frage dargestellt:

Of particular interest is whether those common semantic categories, such as furniture, bird, and vehicle, for which internal structure has already been shown to be a cognitively meaningful variable […] have members which serve reference point functions. (S. 545)

E. Rosch gibt hier also indirekt zu, die Strukturiertheit semantischer Kategorien nach peripheren und zentralen Vertretern (Prototypen) noch nicht gezeigt zu haben.

An dieses Problem knüpft der Aufsatz "Cognitive Representations of Semantic Categories" (Rosch 1975c) an. Rosch räumt ein, die These, auf deren Grundlage nun zahlreiche neue Experimente aufbauen, für semantische Kategorien bisher noch nicht verifiziert zu haben: Die Vorstellung von der internen Strukturiertheit der Kategorien ist "previously specified only for perceptual domains such as color and form" (dies. 1975c, S. 194). Das Experiment, mit dem die These nun auch auf den Bereich der semantischen Kategorien ausgeweitet werden soll, ist jedoch sowohl hinsichtlich der Versuchsanordnung als auch hinsichtlich der Ergebnisse im wesentlichen identisch [17] mit dem von (1973b) wiedergegebenen (vgl. dies. 1975c, S. 198f.) und ist damit m. E. aus denselben Gründen (s. o.) nicht aussagekräftig. Rosch bewertet die Ergebnisse hinsichtlich der Frage nach der Strukturiertheit semantischer Kategorien aber eindeutig als Bestätigung ihrer Hypothese:

The results of this study clearly indicate that semantic categories do have internal structure: (a) Subjects consider it a meaningful task to rate members of such categories according to how well they fit the subjects’ idea or image of the meaning of the category name and (b) there is high agreement between subjects concerning these rankings. (Rosch 1975c, S. 198)

Ebenso deutlich verneint Rosch aber in demselben Aufsatz explizit die bisher nahegelegte damit einhergehende Anwendung des Prototypenbegriffs auch auf semantische Kategorien:

There is no reason to think that good examples of the semantic categories used in the present study are determined by perceptual saliency in the same manner as are prototypes for color categories. (A. a. O., S. 223)

In einer anderen Veröffentlichung desselben Jahres (Rosch & Mervis 1975) wird die fragliche These nicht als zweifelsfrei bewiesen ("demonstrated") dargestellt, sondern lediglich als durch eine beachtliche Menge von Indizien ("considerable evidence") gestützt:

While the domain for which such a claim has been demonstrated most unequivocally is that of color […] there is also considerable evidence that natural superordinate semantic categories have a prototype structure. ( S. 574)

E. Rosch wendet zum ersten Mal 1976 ihr Prototypenkonzept auf semantische Kategorien an (vgl. dies. et al. 1976, S. 433f.): Die Untersuchung der Salienz bestimmter Ebenen von Kategorien desselben Abstraktionsgrads umfaßt auch (rein sprachliche) semantische Kategorien. Ebenso wie im Bereich der perzeptuellen Kategorien ließen sich auch unter den semantischen Kategorien bestimmte "basic categories" ausmachen. Das Konzept der "basic categories" wurde wiederum mit dem Prototypenkonzept gleichgesetzt: "Thus, prototypes of categories appear to follow the same principles as basic categories" (S. 433).

Der Artikel "Linguistic Relativity" (Rosch 1977b) bringt gegenüber (1973b) keine neuen Erkenntnisse. Die damaligen Experimente, die Hinweise auf eine mögliche Strukturiertheit der semantischen Kategorien geben sollten, werden jetzt aber eindeutig als eine Beurteilung von "semantic categories as to their prototypicality" (Rosch 1977b, S. 518) bezeichnet.

E. Rosch liefert mit der Abhandlung "Human Categorization" (1977c) eine ausführliche Zusammenfassung ihrer bisherigen Ergebnisse. Die Strukturierung semantischer Kategorien durch einen Prototyp und der Abstand zu diesem wird als erwiesen dargestellt:

Evidence produced by widely converging experimental techniques was presented to show that noun categories can be viewed as coded and used in terms of prototypes and distance from the prototypes. (S. 26)

 

E. Rosch hat zur "Standardversion" der Prototypensemantik noch mehr beigetragen, als lediglich eine interne Strukturiertheit semantischer Kategorien zu postulieren und die postulierte Struktur mit dem Schlagwort ‚Prototyp‘ zu umreißen. Im folgenden sollen einige weitere Grundgedanken vorgestellt werden, die allesamt mit dem ‚Prototypen‘-Begriff eng verwoben sind und deren Darstellung zur weiteren Erhellung dieses Begriffs entscheidend beiträgt.

Zuerst stellt sich die Frage, was eigentlich einen bestimmten Vertreter einer Kategorie im Gegensatz zu den anderen zu einem prototypischen Vertreter macht. Rosch & Mervis (1975) klären diese Frage mittels einer besonderen Ansammlung von Merkmalen, die den Prototyp auszeichnet. Die Natur dieser Merkmale und deren Verteilung auf die Vertreter einer Kategorie wird in bewußtem Kontrast zu den definitorischen Merkmalen der strukturalistischen Semantik (im Sinne von notwendigen und hinreichenden Bedingungen für die Kategorienzugehörigkeit) mit einem ‚flexibleren‘ Modell für die Beziehung zwischen den Elementen einer Kategorie beschrieben: Unter Berufung auf L. Wittgensteins Beispiel von der Ähnlichkeit zwischen verschiedenen Spielen [18] bemühen Rosch und Mervis den von jenem eingeführten Terminus "family resemblance" ("Familienähnlichkeit"). Damit soll zum Ausdruck kommen, daß — wie den Spielen im Beispiel — nicht allen Vertretern alle Merkmale gemeinsam sein müssen, um eine Beziehung zwischen diesen herzustellen (vgl. Rosch & Mervis 1975, S. 574f.). Rosch und Mervis kondensieren Wittgensteins Gedanken zu folgender schematischer Form:

A family resemblance relationship consists of a set of items of the form AB, BC, CD, DE. That is, each item has at least one, and probably several, elements in common with one or more other items, but no, or few, elements are common to all items.

(A. a. O., S. 575)

Als prototypisch werden nun diejenigen Vertreter einer Kategorie angesehen, welche den größten Grad an "Familienähnlichkeit" mit den anderen Vertretern dieser Kategorie aufweisen. Gleichzeitig weisen umgekehrt diese prototypischen Vertreter den geringsten Grad an "Familienähnlichkeit" mit anderen Kategorien auf (vgl. Rosch & Mervis 1975, S. 575).

Der Grad der Familienähnlichkeit und damit der Prototypizität wird mit Hilfe des aus der Wahrscheinlichkeitsrechnung entlehnten Begriffs der "cue validity" bestimmt. Die "cue validity" sagt voraus, mit welcher Wahrscheinlichkeit eine Eigenschaft einem Objekt einer Kategorie zukommt bzw. ein Objekt aufgrund seiner Eigenschaft(en) einer Kategorie zugeordnet wird. Rechnerisch ergibt sich der Wert aus der Häufigkeit einer mit der betreffenden Kategorie verbundenen Eigenschaft geteilt durch die gesamte Häufigkeit dieser Eigenschaft in allen in Frage kommenden Kategorien. Angewandt auf die Frage nach der Bestimmung des Prototyps einer Kategorie mittels Merkmalen bedeutet das: Diejenigen Merkmale, welche möglichst vielen Vertretern einer bestimmten Kategorie und gleichzeitig möglichst wenigen Vertretern anderer mit dieser konkurrierenden Kategorien gemeinsam sind, sind für die Bestimmung des Prototyps am ausschlaggebendsten; sie haben den höchsten Wert. Der Prototyp ist dann der Vertreter, der durch die Werte seiner Merkmale die höchste Summe auf sich vereinigen kann, also der mit den meisten und wertvollsten Merkmalen (vgl. a. a. O., S. 575f. und Rosch et al. 1976, S. 384). Dafür, wie sich mit Hilfe der "cue validity" beispielsweise der Kreis der Kandidaten für den Prototyp der Kategorie VOGEL einschränken ließe, liefert G. Kleiber — Rosch und Mervis zusammenfassend — ein Beispiel:

Das Merkmal "Federn haben" hätte demnach eine hohe cue validity für die Kategorie Vogel, weil (fast) alle Vögel Federn haben und weil keine andere Kategorie Federn aufweist — abgesehen von bestimmten Tänzerinnen, wie S. G. Pulman […] scherzhaft bemerkt. Das Merkmal "Tierfüße haben" […] hätte hingegen eine niedrige cue validity, da zwar alle Vögel diese Eigenschaft aufweisen, zahlreiche andere Kategorien aber ebenfalls. (Ders. 1990/1993, S. 53)

Ein Vogel ohne Federn wäre daher mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht als prototypischer Vogel anzusehen. [19]

Die Verbindung zwischen dem durch die Merkmale bestimmten Grad der ‚Verwandtschaft‘ innerhalb einer Kategorie und der Prototypizität eines Vertreters konnte von Rosch und Mervis experimentell nachgewiesen werden: Probanden sollten für jeweils 20 Vertreter der Kategorien FURNITURE, VEHICLE, FRUIT, WEAPON, VEGETABLE und CLOTHING Merkmale ("attributes that people feel are common to and characteristic" [Rosch & Mervis 1975, S. 578]) auflisten. [20] Für die insgesamt 120 Ausdrücke waren bereits in einem früheren Experiment (vgl. Rosch 1975c) die Zugehörigkeiten zu den jeweiligen Kategorien erwiesen und die Rangfolgen hinsichtlich ihrer Prototypizität ermittelt worden. Die Verteilung der von den Probanden im aktuellen Experiment den Vertretern zugesprochenen Merkmale zeigte eine Struktur, die das Modell der "Familienähnlichkeit" stützt: Die meisten Merkmale waren nur einigen und nur wenige Merkmale vielen Vertretern gemeinsam (vgl. Rosch & Mervis 1975, S. 581). Es zeigte sich weiterhin, daß diejenigen Vertreter, denen die meisten mit anderen Vertretern gemeinsamen Merkmale zugeschrieben wurden, dieselben waren, die in dem früheren Experiment als bessere Beispiele für die jeweiligen Kategorien eingestuft wurden und demnach in der Prototypizitätsrangliste weiter oben standen:

The degree to which a given member possessed attributes in common with other members was highly correlated with the degree to which it was rated prototypical (representative) of the category name. (A. a. O., S. 584)

Auch der umgekehrte Effekt der Hypothese, daß nämlich die prototypischeren Vertreter einer Kategorie die wenigsten Merkmale mit Vertretern anderer Kategorien gemeinsam haben, konnte experimentell bestätigt werden: Probanden bestimmten zu den vorher untersuchten Kategorien weitere möglichst ähnliche Kategorien, dann wurden die Merkmale der Vertreter dieser Kategorien ermittelt und mit den vorherigen Ergebnissen verglichen. Beispielsweise wurden in einem Experiment für CHAIR als konkurrierende Kategorien SOFA, STOOL und CUSHION ermittelt, mit CAR konkurrierten TRUCK, BUS und MOTORCYCLE. Anhand von Abbildungen wurden die Merkmale der Vertreter jener Kategorien ermittelt und mit denen des ersten Experiments verglichen. Der Vergleich ergab, "that the more prototypical of the category a picture had been rated, the fewer attributes it shared with categories in direct contrast with that category" (a. a. O., S. 591).

 

Neben der Frage, was einen Vertreter einer Kategorie im Gegensatz zu den anderen in den Rang eines Prototyps erhebt, beschäftigt sich E. Rosch mit der Frage nach den "Cognitive Representations of Semantic Categories". In der so betitelten Arbeit (dies. 1975c) präsentiert sie die Ergebnisse zahlreicher Priming-Experimente. In diesen Experimenten sollten Probanden u. a. mal entscheiden, ob zwei vorgelegte Stimuli Elemente derselben oder verschiedener Kategorien sind, mal mußte nur über die Identität der Objekte entschieden werden. Die Stimuli konnten auf Karten geschriebene Elemente sprachlicher Kategorien (Wörter) sein oder Bilder. Gleichzeitig wurde ein Priming durchgeführt, das heißt den Probanden wurden eine (sehr) kurze Zeit vor jeder Beurteilung ein Wort von einem Tonband vorgespielt, welches sie nachsprechen mußten. Dieser Prime bestand mal in der den darauffolgenden Vertretern entsprechend ‚richtigen‘ übergeordneten Kategorie, mal in einer ‚falschen‘ Kategorie und mal blieb er aus. Gemessen wurde die Zeit, welche die Probanden für ihre Entscheidung benötigten.

Es zeigte sich, daß das Priming den Effekt hatte, daß die Aufgaben von den Probanden im allgemeinen signifikant schneller gelöst wurden, wenn als Prime die ‚richtige‘ übergeordnete Kategorie vorausging. Des weiteren wurden unterschiedliche Zeiten für Stimuli gemessen, die zuvor als ‚gute‘, ‚mittlere‘ oder ‚schlechte‘ Vertreter ihrer Kategorie eingestuft worden waren.

Die Experimente, in denen der zeitliche Abstand zwischen dem Priming und dem Vorlegen der zu beurteilenden Stimuli stets 2 s betrug (vgl. a. a. O., S. 197—219), zeigten hinsichtlich der unterschiedlichen Stimuli (Wörter und Bilder) zwar, daß für Wörter im allgemeinen mehr Zeit für die Entscheidung benötigt wird, das Priming hatte aber bei den unterschiedlichen Gruppen keine Abweichungen zur Folge, die sich dahingehend interpretieren ließen, daß die kognitiven Repräsentationen von Kategorien entweder bildlich oder verbal vorgestellt werden können:

The results of the present experiment support the idea that the representation is not entirely specific to either a pictorial or verbal mode but is some set of abstract probabilities of items that can represent the meaning of the category in either mode. (S. 219)

In einem weiteren Experiment setzte E. Rosch das Zeitintervall schrittweise herab. Ein Effekt, der Unterschiede zwischen den beiden Arten von Stimuli erkennen läßt, trat bei 0,6—0,7 s auf (vgl. S. 220—222). Er wird damit erklärt, daß z. B. dem Wort Auto und der schematischen Zeichnung eines Autos zwar dieselbe kognitive Repräsentation zugrunde liegt, diese aber im Zug der kognititven Verarbeitung erst in ein jeweils unterschiedliches ‚Format‘ übertragen werden muß. Die Tatsache, daß dies für Bilder weniger Zeit in Anspruch nimmt als für Wörter, legt aber durchaus nahe, daß das Wesen der zugrundeliegenden kognitiven Repräsentation dem von Bildern näher ist als dem von Wörtern (S. 222):

The fact that less time is required to prepare for pictures suggests very tentatively that pictures may be closer to the nature of the underlying representation than are words.

 

Die bisher untersuchten Asymmetrien betreffen stets die ‚horizontale Dimension‘: Die Beziehungen zwischen den Vertretern einer Kategorie wurden von E. Rosch als nicht gleichberechtigt dargestellt; einige Vertreter — die Prototypen — nehmen eine prominentere Stellung innerhalb einer Kategorie ein als andere. Rosch untersuchte aber auch mögliche Asymmetrien in der ‚vertikalen Dimension‘: Ihre These lautet, daß es auch im Verhältnis zwischen übergeordneten und untergeordneten Kategorien eine prominente Ebene ("basic level") mit dort angesiedelten "basic categories" (auch "basic level objects" oder "basic objects") gibt, die eine herausgehobene Stellung gegenüber den über- und untergeordneten Kategorien einnehmen (vgl. Rosch et al. 1976, S. 382 und dies. 1977a, S. 214).

Als Kriterium für die Zugehörigkeit einer Kategorie zu einer bestimmten Ebene dient die Ansammlung von Merkmalen, die das betreffende Objekt aufweist. Die Strukturierung in verschiedene Ebenen erwächst aus der Tatsache, daß die Merkmale in der Welt nicht unabhängig voneinander vorkommen:

Creatures with feathers are more likely also to have wings than creatures with fur, and objects with the visual appearence of chairs are more likely to have functional sit-on-ableness than objects with the appearance of cats. (Rosch et al. 1976, S. 383)

Übergeordnete Kategorien weisen nun eher generelle Merkmale auf, während untergeordnete Kategorien stärker differenziert sind. Aus Gründen der kognitiven Ökonomie nimmt nun die dazwischen angesiedelte Basisebene als ‚Kompromiß‘ eine Vorrangstellung zwischen den widerstreitenden Prinzipien ein, möglichst genau zu sein und gleichzeitig möglichst umfassend. Sie ist "the most general and inclusive level at which categories can delineate real-world correlational structures" (a. a. O., S. 384).

Experimente bestätigten dieses Konzept anhand von neun ausgewählten Gruppen von Kategorien, die möglichst eindeutige Taxonomien von einander über- und untergeordneten Begriffen darstellten. Die Gruppen wurden in sechs "non-biological" und drei "biological taxonomies" unterteilt, von denen im folgenden jeweils zwei Beispiele angeführt sind. Die hypothetische Zuordnung der "non-biological taxonomies" wurde intuitiv vorgenommen, die der "biological taxonomies" erfolgte auf der Grundlage einer Arbeit von B. Berlin (1972), in der sechs Ebenen für die "ethnobotanical nomenclature" vorgeschlagen werden (vgl. S. 52). Die "generic names" wie z. B. engl. oak, pine und maple erscheinen Berlin als die primären (S. 54) und werden deshalb von Rosch dem "basic level" zugerechnet:

Superordinate

Basic level

Subordinates

Non-biological taxonomies

Musical

instrument

Guitar

Piano

Drum

Folk guitar

Grand piano

Kettle drum

Classical guitar

Upright piano

Bass drum

Furniture

Table

Lamp

Chair

Kitchen table

Floor lamp

Kitchen chair

Dining room table

Desk lamp

Living room chair

Biological taxonomies

Tree

Maple

Birch

Oak

Silver maple

River birch

White oak

Sugar maple

White birch

Red oak

Bird

Cardinal

Eagle

Sparrow

Easter cardinal

Bald eagle

Song sparrow

Grey tailed cardinal

Golden eagle

Field sparrow

(Rosch et al. 1976, S. 388)

Probanden listeten nun zu den einzelnen Kategorien Merkmale auf. Es zeigte sich, daß einerseits für die (mutmaßlichen) Basiskategorien sowie für die untergeordneten Kategorien jeweils eine wesentlich größere Anzahl von Merkmalen ermittelt werden konnte als für die übergeordneten Kategorien. Andererseits kamen beim Übergang von der Basisebene zu den untergeordneten Kategorien nur sehr wenige neue Merkmale hinzu (vgl. S. 435f.).

Mit dem bereits zur Ermittlung des prototypischen Vertreters einer Kategorie erprobten Verfahren der Berechnung der "cue validity" der Kategorien (s. o.) läßt sich auch bestimmen, welche Kategorien der Basisebene zuzurechnen sind. Übergeordnete Kategorien haben untereinander nur wenige Merkmale gemeinsam, und die untergeordneten Kategorien unterscheiden sich voneinander hinsichtlich ihrer Merkmale kaum. Also ist die Basisebene diejenige, auf der die Kategorien mit den höchsten "cue validities" angesiedelt sind:

Total cue validities are maximized at that level of abstraction at which basic objects are categorized. That is, categories one level more abstract will be superordinate categories (e.g., furniture, vehicle) whose members share only a few attributes among each other. Categories below the basic level will be subordinate categories (e.g. kitchen chair, sports car) which are also bundles of predictable attributes and functions, but contain many attributes which overlap with other categories (for example, kitchen chair shares most of its attributes with other kinds of chairs). (A. a. O., S. 385)

Der Vergleich der anhand der experimentell ermittelten Merkmale berechneten "cue validities" bestätigte für den Bereich der "non-biological taxonomies" die vorhergesagten Kategorien als "basic objects" (vgl. S. 428—435). Der Bereich der "biological taxonomies" zeigt jedoch abweichende Ergebnisse: Die von Berlin (1972) als primär eingestuften "generic names" erwiesen sich ihrer "cue validity" nach als "subordinates", das "basic level" wird also von tree, bird etc. gebildet (vgl. Rosch 1977a, S. 214).

Die Ergebnisse, welche die kognitive Salienz der "basic level objects" nahelegen, werden von Rosch (et al. 1976) als weiteres Indiz für die Idee von der ‚bildhaften‘ Natur der Prototypen angeführt:

The demonstration that basic objects are also the most inclusive categories for which it was possible to recognize an averaged shape of members […] raises the possibility that basic objects are also the most inclusive taxonomic level at which it is possible to have a representation which is isomorphic to the physical appearance of objects of the class–in short, to have an image of the class.

(Rosch et al. 1976, S. 406)

Diese Vorstellung von der Existenz gewisser "basic categories" ist auch dafür verantwortlich, daß die Ausdrücke dieser Ebene bevorzugt verwendet werden, um auf Objekte zu referieren, auf die ebenso gut mit einem über- oder untergeordneten Ausdruck referiert werden könnte: So wird z. B. zur Beschreibung der alltäglichen Begebenheit, daß sich ein Hund auf dem Rasen befinde, in der Regel eben der Ausdruck Hund gegenüber Vierbeiner oder Boxer vorgezogen (vgl. Kleiber 1990/1993, S. 57). Die "basic categories" sind aufgrund ihrer kognitiven Salienz dominanter.

 

George Lakoffs Beitrag zur "Standardversion" der Prototypensemantik findet seinen nachhaltigsten Ausdruck in dem Aufsatz "Hedges. A Study in Meaning Criteria and the Logic of Fuzzy Concepts" (1972). Unter dem Einfluß von Lofti Zadehs "Fuzzy sets" (1965; s. u. Kap. 3.4.1) entwickelt Lakoff eine auf Logik basierende Beschreibung gradueller Zugehörigkeiten zu einer Kategorie. Im Rahmen der herkömmlichen Logik ist der Satz John is tall entweder wahr oder falsch (oder sinnlos), je nachdem, wie groß John, auf den referiert wird, tatsächlich ist. Ist John 1,90 m groß, so ist der Satz zweifelsohne wahr, mißt er aber nur 1,80 m, so ist er zwar relativ kleiner, aber immer noch groß. Die an 1,90 m fehlenden Zentimeter berühren den Wahrheitsgehalt des Satzes so lange nicht, bis John eindeutig als kleiner Mann bezeichnet werden muß, z. B. bei einer Größe von 1,60 m. Lakoff argumentiert nun, daß der Satz John is tall eben nicht nur die Werte wahr oder falsch annehmen kann, sondern daß der Wahrheitsgehalt des Satzes mit der Körpergröße Johns abnimmt. Über einen Mann von beispielsweise 1,75 m Körpergröße geäußert wäre er dann vielleicht nur zu einem Grad von 0,8 wahr, wenn Wahrheit den Wert 1 und Unwahrheit den Wert 0 hat.

Diesen Gedanken überträgt Lakoff auf Sätze, die Aussagen über die Zugehörigkeit eines Vertreters zu einer Kategorie darstellen. So ist der Wahrheitsgehalt solcher Sätze, wenn sie einen zentralen Vertreter einer Kategorie enthalten (A robin is a bird), höher als der von Sätzen mit peripheren (A penguin is a bird) Vertretern (vgl. Lakoff 1972, S. 183—185).

Dieser graduelle Wahrheitswert findet seinen sprachlichen Niederschlag in sogenannten ‚Hecken‘-Ausdrücken ("hedges") — "words whose job is to make things fuzzier or less fuzzy" (a. a. O., S. 195). Diese Ausdrücke, z. B. engl. sort of, very, loosely speaking, technically, strictly speaking etc., können den Grad der Zugehörigkeit eines Vertreters zu einer Kategorie widerspiegeln bzw. den Wahrheitswert eines Satzes herauf- oder herabsetzen, je nachdem ob sie den Grad der Zugehörigkeit adäquat wiedergeben oder nicht: So wird A robin is a bird durch Hinzufügen von sort of von einem hochgradig wahren in einen hochgradig falschen Satz (A robin is sort of a bird) verwandelt, weil das Rotkehlchen eben nicht nur so eine Art Vogel ist, sondern der prototypische Vogel schlechthin. Der Wahrheitsgrad von A penguin is sort of a bird hingegen ist wesentlich höher als der desselben Satzes ohne den ‚Hecken‘-Ausdruck, da sort of hier den Abstand des Pinguins zum zentralen Vertreter der Kategorie VOGEL richtig anzeigt (vgl. a. a. O., S. 195—217).

Mit der Erforschung der ‚Hecken‘-Ausdrücke liefert Lakoff ein wichtiges Indiz dafür, daß auch die Struktur der sprachlichen Kategorien auf dem Prinzip der graduellen Zugehörigkeit beruht. Er plädiert dafür, diese Struktur bei der formalen logischen Analyse zu berücksichtigen, indem Wahrheitswerte nicht nach den Prinzipien der herkömmlichen Logik behandelt werden, sondern ebenfalls als graduell angesehen werden sollen.

 

William Labovs Aufsatz "The boundaries of words and their meanings" (1973) ist maßgeblich für die Verbreitung des Schlagworts "Vagheit" ("vagueness") in der Prototypensemantik verantwortlich. Labov argumentiert gegen herkömmliche Modelle der Kategorisierung, die auf der Grundvorstellung beruhen, daß Kategorien durch Konjunktion distinktiver Merkmale definiert seien (vgl. a. a. O., S. 340—347). Besonders die Kategorien natürlicher Sprachen sind aber vielmehr — so Labov — durch intensionale Vagheit gekennzeichnet, das heißt, sie sind in der Hinsicht nicht scharf von den ‚benachbarten‘ Kategorien abgegrenzt, daß Wörter Objekte denotieren, die eine große Varietät aufweisen können, was sich beispielsweise u. a. in linguistisch eher unbefriedigenden weil ‚schwammigen‘ Begriffsdefinitionen in Wörterbüchern niederschlägt (vgl. S. 349).

Zum Zweck einer modellhaften exakten und theoretisch befriedigenden Wörterbuchdefinition, die der Vagheit der Begriffe Rechnung trägt, übernimmt Labov von dem Philosophen Max Black die Idee, Vagheit ‚meßbar‘ und damit das Problem für die Semantik handhabbar zu machen: Black stellte in einem imaginären Museum ein Kontinuum von Tausenden von Artefakten vor, an dessen einem Ende ein roher Holzklotz steht und am anderen ein Chippendale-Stuhl (vgl. Black 1949, S. 32f.). Dazwischen befinden sich — nach ihrer Ähnlichkeit geordnet — hölzerne Objekte, die in Richtung Stuhl immer feiner bearbeitet sind, also immer ‚stuhlartiger‘ mit abnehmender ‚Holzklotzartigkeit‘ werden. Betrachter dürften nun Schwierigkeiten bekommen, die Reihe der Objekte an einer Stelle klar in Stühle und Nicht-Stühle zu scheiden. Es gibt zwar in der Nähe des Holzklotzes ziemlich eindeutige Nicht-Stühle und in der Nähe des Stuhls ziemlich eindeutige Stühle, dazwischen aber ist ein vager Bereich. Das gilt nach Black für alle Symbole, bei deren Verwendung Objekte durch die sinnliche Wahrnehmung identifiziert werden müssen. Den Grad der Vagheit bei der Verwendung bestimmter Ausdrücke bestimmt Black mittels logisch-mathematischer Konsistenzprofile (vgl. S. 42—49). Labovs Verdienst ist es nun, diese Methode exemplarisch anhand der engl. Bezeichnungen für Gefäßtypen für die lexikalische Semantik fruchtbar gemacht zu haben und somit Vagheitsbereiche experimentell einzuschränken und quantitativ bestimmen zu können: Er zeigte Probanden schematische Abbildungen von Tassen, die graduell abgestuft in der Höhe oder in der Breite variieren, so daß er z. B. eine extrem hohe Tasse erhält, die aussieht wie ein Weißbierglas mit Henkel, oder die Tasse verbreitert sich nach und nach zum Schälchen usw. Die englischsprachigen Testpersonen sagten für die ganz kleine (= normale) Tasse erwartungsgemäß cup, für die längste Tasse vase, für die breiteste mug und für die Objekte im dazwischen liegenden Vagheitsbereich mal das eine und mal das andere.

Aus dem Verhältnis der Zahl der Probanden, die ein und denselben Gegenstand als cup ansprachen, zu der Zahl derjenigen, welche dazu mug sagten, errechnete Labov die Konsistenzprofile, die den Vagheitsbereich der jeweiligen Ausdrücke klar umreißen und die Konsistenz der Anwendung einzelner Ausdrücke auf die jeweiligen Objekte bestimmen (vgl. Labov 1973, S. 357—365).

Interessanterweise war die Wahl der Bezeichnung nicht nur von der Form des Gefäßes abhängig, sondern auch vom jeweils konstruierten Kontext: Sollte man sich Kaffee als Füllung einer Vase vorstellen, wurde diese von den Probanden eher als cup bezeichnet, die hypothetische Füllung mit Brei gab den Ausschlag eher in Richtung mug und mit Blumen gefüllte Tassen wurden tendenziell eher als vase angesprochen. Damit hatte Labov gezeigt, daß nicht nur die Gestalt, sondern auch die (gedachte) Funktion eines Gegenstandes in einem bestimmten Kontext ein Kriterium für die Verwendung einer Bezeichnung darstellt, und also sprachlich fixierte Kategorien wie cup nicht vollständig durch die (sinnlich wahrnehmbaren) Merkmale des damit bezeichneten Objekts festgelegt sind. Labov konnte also zeigen, daß Kategorien nicht scharf begrenzt sind, indem er die Zuordnung von Objekten zu einer Kategorie als variabel darstellte, abhängig z. B. von Form und Kontext.

Um die Ergebnisse in lexikographisch verwertbare Definitionen zu verwandeln, ist Labov allerdings auf eine Analyse der Merkmale der Denotata angewiesen. Diese haben jedoch keinen distinktiven Charakter und dienen eher zum Ersetzen von Variablen in den exakten Definitionen: So umfaßt der modellhafte Lexikoneintrag von cup nach Labov acht Merkmale, die die Bedeutung exakt bestimmen, diese aber gleichzeitig durch die möglichen Kombinationen in einer Formel variabel halten. So erhöht sich z. B. der Konsistenzwert für cup, wenn der Ausdruck auf einen Gegenstand angewandt wird, der einen Henkel aufweist usw. (vgl. S. 366f.):

The term cup is regularly used to denote round containers with a ratio of width to depth of 1 ± r where r < rb, and r= a1 + a2 + …an and ai is a positive quantity when the feature i is present and 0 otherwise.

feature 1 = with one handle

2 = made of opaque vitreous material

3 = used for consumption of food

4 = used for consumption of liquid food

5 = used for consumption of hot liquid food

6 = with a saucer

7 = tapering

8 = circular in cross-section

Cup is used variably to denote such containers with ratios of width to depth of 1 ± r where rb < r < rt with a probability of rt — r/rt — rb. The quantity 1 ± rb expresses the distance from the modal value of width to height.

(A. a. O., S. 366f.)

 

Ch. Fillmores Neuansatz zur lexikalischen Semantik trägt zur "Standardversion" der Prototypensemantik bei, indem er die Grundidee des Prototyps mit der Vorstellung von "Rahmen" ("frames") verbindet. Fillmores Versuch, eine Theorie der lexikalischen Semantik auf diesen beiden Grundpfeilern zu errichten, gründet in der Suche nach einer "Alternative to Checklist Theories of Meaning" — so der Titel seines initialen Artikels (1975).

Eine "checklist theory", also eine, die (mittels notwendiger und hinreichender Kriterien) die Grenzen von lexikalischen Einheiten wie beispielsweise engl. bachelor zu bestimmen trachtet, muß sich — so Fillmore — folgenden Fragen stellen: Wie alt muß ein unverheirateter Mann geworden sein, bis man ihn einen Junggesellen nennen kann? Kann man jemanden, der von Berufs wegen zum Singledasein verpflichtet ist (wie z. B. den Papst), ernsthaft als Junggesellen ansehen? usw. (vgl. a. a. O., S. 129, ders. 1977b, S. 68f. und ders. 1982, S. 34). Eine Prototypensemantik hingegen wird durch solche Probleme nicht in Verlegenheit gebracht. Diese marginalen Gegenbeispiele sind für die Bedeutung von bachelor nicht relevant, da diese im Kontext einer vereinfachten Weltsicht definiert wird, nach der Männer typischerweise in einem bestimmten Alter heiraten: "This prototype world simply does not cover the bizarre cases" (Fillmore 1975, S. 129). Die Definition (der Hauptbedeutung) von bachelor lautet also schlicht: "Men who are unmarried at a time when they could be married" (ebd.).

Die Beschreibung der prototypischen Bedeutung von bachelor basiert also auf der Beschreibung der typischen Lebensumstände eines Junggesellen, das heißt einer prototypischen "scene", in der man sich einen Junggesellen vorstellt. Fillmores Vorstellung von ‚Prototyp‘ basiert auf dem ‚Prototypen‘-Begriff von E. Rosch (1973b) (vgl. Fillmore 1976, S. 24): Eine "real-world scene" wird als graduell zu einer prototypischen Szene gehörig wahrgenommen. Die "prototype scenes" enthalten dabei nicht alle Fakten der aktuellen "real-world scenes"; sie erklären die "clearest cases, the best examples" (ders. 1977a, S. 87). Diesen aus abstrahiertem ("selected, filtered, and generalized" [ders. 1976, S. 27]) Weltwissen und (situativem) Kontext hervorgehenden "prototypical scenes" entsprechen bestimmte sprachliche "frames" [21]:

I would like to say that people associate certain scenes with certain linguistic frames. I use the word scene in a maximally general sense, including not only visual scenes but also familiar kinds of interpersonal transactions, standard scenarios defined by the culture, institutional structures, enactive experiences, body image, and, in general, any kind of coherent segment of human beliefs, actions, experiences or imaginings. I use the word frame for any system of linguistic choices–the easiest cases being collections of words, but also including choices of grammatical rules or linguistic categories–that can get associated with prototypical instances of scenes. (Ders. 1975, S. 124)

Die "scenes" und "frames" sind zu einem System miteinander verflochten:

There are certain schemata or frameworks of concepts or terms which link together as a system, which impose structure or coherence on some aspect of human experience, and which may contain elements which are simultaneously parts of other such frameworks. (A. a. O., S. 123)

"Frames" können sich innerhalb eines anderen "frame" befinden oder andere kleinere "frames" beinhalten. Durch ein Element eines "frame" kann auch ein anderer, benachbarter "frame" aktiviert werden.

Ein "frame" ist eine kognitive Struktur, die einer Erfahrung durch Einordnung in einen Zusammenhang Bedeutung [22] verleiht:

Every memorable experience occurs in a meaningful context and is memorable precisely because the experiencer has some cognitive schema or frame for interpreting it. This frame identifies the experience as a type and gives structure and coherence–in short, meaning–to the points and relationships, the objects and events, within the experience. (Ders. 1976, S. 26)

Mit dem engl. Verb write ist z. B. eine "scene" assoziiert, in der jemand ein spitz zulaufendes Werkzeug, das Spuren hinterläßt, über eine Oberfläche führt (vgl. Fillmore 1975, S. 125f., ders. 1977a, S. 81—84 und ders. 1977b, S. 64—66). Dasselbe gilt für jap. kaku. Im Gegensatz zu write kann aber das Produkt einer im Japanischen mit kaku bezeichneten Tätigkeit auch eine Zeichnung sein. Da das Produkt von write aber immer sprachlich ist, aktiviert write noch eine weitere "scene", die einen "language frame" aufruft. Deshalb kann z. B. auf den Satz I have been writing mit der Frage What language were you writing in? reagiert werden.

Ein aufgerufener "frame" impliziert auch eher ‚grammatische‘ Informationen, z. B. bestimmte Rollen wie ‚Subjekt‘ oder ‚Objekt‘ etc. Ist z. B. von einem geschäftlichen Vorgang die Rede, so ist das Vorhandensein von Waren (B) und Geld (C) sowie eines Käufers (A) und eines Verkäufers (D) impliziert. Wörter wie buy, sell, pay, cost, spend, charge usw. sind also alle mit einem Rahmen "commercial event" verbunden, der diese Rollen enthält (vgl. ders. 1976, S. 25, 1977a, S. 102—109 und 1977b, S. 58—60):

(Fillmore 1977a, S. 104)

Die einzelnen mit diesem Rahmen verbundenen Verben unterscheiden sich nun z. B. dadurch voneinander, daß sie den einzelnen Elementen unterschiedliche Subjekt- (1) und Objektpositionen (2) zuweisen oder sie mit unterschiedlichen Präpositionen verbinden, oder daß der Vorgang aus einer anderen Perspektive betrachtet wird (in der folgenden Graphik liegt der Fokus der Perspektive auf den oval umrandeten Elementen). Die Rahmen von buy und sell lassen sich so folgendermaßen spezifizieren (1977a, S. 106):

Diese der Valenztheorie und der Kasusgrammatik nahestehende Beschreibung (vgl. S. 90—94) ist besonders für Verben naheliegend. Fillmore führt diesen Ansatz aber auch für Substantive vor. Die Bedeutung von engl. alimony ‘Alimente’ (vgl. auch ders. 1976, S. 28f.) wird beschrieben als Aufeinanderfolge von teilweise ineinander verschachtelten "prototype scenes associated with legal acts and with the marriage relationship" (ders. 1977a, S. 115):

(ebd.)

Fillmore vergleicht die Darstellung mit einem Comic strip: Der zeitliche Ablauf ist von links nach rechts zu ‚lesen‘; untereinander dargestellte Szenen spielen gleichzeitig (vgl. ebd.): Etwas ("X") beginnt, und zwar das Verheiratetsein zweier Partner (A und B). Dann geschieht etwas anderes ("Z") in einem juristischen Kontext, und zwar endet das Verheiratetsein von A und B, und gleichzeitig vereinbaren die beiden etwas ("Y"), und zwar, daß daraufhin der eine dem anderen etwas (C) gibt, und dieses ‚Etwas‘ ist alimony. Fillmores Beschreibungsansatz ist für Substantive offenbar etwas umständlicher als für Verben und basiert darüber hinaus weitgehend auf verbalen Rahmen.

 

H. Putnam nähert sich in der Untersuchung "The Meaning of ‘Meaning’" (1975) der Beschreibung von Bedeutungen von der Philosophie her an. Seine Überlegungen zu der traditionellen philosophischen Unterscheidung eines intensionalen und eines extensionalen ‚Bedeutungs‘-Begriffs kommen zu dem Ergebnis, daß ‚Bedeutung‘ weder mit Intension noch mit Extension gleichgesetzt werden kann (vgl. a. a. O., S. 164). Vielmehr setzt sich nach Putnam die Bedeutung eines Worts zusammen aus mehreren Komponenten, von denen eine die Extension des Worts ist (vgl. S. 165).

Die genaue Bestimmung der Extension eines Worts ist eines von zwei Problemen bei der Bedeutungsbestimmung (vgl. ebd.). Die Lösung dieses Problems fällt in den Aufgabenbereich der Soziolinguistik, da nach Putnams Hypothese von der sprachlichen Arbeitsteilung (vgl. S. 144—146) nur eine Teilmenge der Sprecher einer Sprache überhaupt in der Lage ist, Extensionen zweifelsfrei zu bestimmen: Beispielsweise können — obwohl alle Sprachteilhaber des Deutschen die Bedeutung des Worts Gold erworben haben dürften — nur wenige Experten mit detaillierten metallurgischen Kenntnissen die Extension von Gold bestimmen. Zur Klärung des Verhältnisses von Bedeutungen und spezifischen Extensionen müssen also die Verhältnisse zwischen einzelnen Gruppen innerhalb einer Sprechergemeinschaft beschrieben werden.

Der zweite Aspekt der Bedeutungsbestimmung ist die Beschreibung der individuellen Kompetenz ("individual competence") eines Sprechers, die Putnam dem Bereich der Psycholinguistik zuordnet (vgl. S. 166).

Darunter fällt z. B. die Bestimmung eines Stereotyps ("stereotype"). Ein Stereotyp wird als eine Menge von Merkmalen ("features") definiert; Putnam führt den Begriff ein als "a standardized description of features of the kind that are typical, or ‘normal’, or at any rate stereotypical" (S. 147). Diese Merkmale haben als Kriterien für die Zugehörigkeit eines Vertreters zu einer Kategorie den Stellenwert von notwendigen Bedingungen ("necessary conditions"), allerdings mit einer Einschränkung, die sie in die Nähe der Merkmale bei W. Labov (s. o.) rückt: "probabilistic necessary conditions" (Putnam 1975, S. 147), also notwendige Bedingungen "in a loose sense" (ebd.). Das Stereotyp von z. B. engl. tiger beinhaltet die Merkmale "being an animal; being big-cat-like; having black stripes on a yellow ground (yellow stripes on a black ground?); etc." (S. 188). Das heißt aber nicht, daß notwendigerweise alle Tiger diese Merkmale aufweisen müssen; auch deformierte Albino-Tiger stellen keinen Widerspruch dar (vgl. S. 170 und S. 189).

Dem Merkmal "being an animal" schreibt Putnam allerdings einen besonderen Stellenwert zu: In Anlehnung an Katz & Fodor (1963; s. o. Kap. 2.1.2) nennt er Merkmale dieser Art "semantic markers" (Putnam 1975, S. 189). Putnam übernimmt die Unterscheidung von "markers" und "distinguishers": Die "markers" fungieren als "category-indicators" (ebd.), während die "distinguishers" im Sinne von Katz & Fodor bei Putnam das Stereotyp charakterisieren. Putnams Auffassung unterscheidet sich aber von der von Katz & Fodor in der Hinsicht, daß die beiden Arten von Merkmalen nicht als gleichermaßen notwendige und hinreichende Bedingungen angesehen werden (vgl. S. 190).

Als weitere Komponente kommen noch "syntactic markers" hinzu. Putnams Vorschlag für die Bedeutungsbeschreibung umfaßt also insgesamt die folgenden vier Komponenten:

(1) the syntactic markers that apply to the word, e.g., "noun";

(2) the semantic markers that apply to the word, e.g., "animal", "period of time";

(3) a description of the additional features of the stereotype, if any;

(4) a description of the extension.

(S. 190)

Nach diesem Schema führt Putnam exemplarisch die Bedeutungsbeschreibung von engl. water vor:

Syntactic Markers

Semantic Markers

Steoreotype

Extension

mass noun,

concrete

natural kind,

liquid

colorless,

transparent,

tasteless,

thirst-quenching,

etc.

H2O

(give or take impurities)

(S. 191)

Die ersten drei Komponenten stellen eine Hypothese über die Kompetenz eines einzelnen Sprechers dar, sind also eher ‚psychologischer‘ Natur, während die letzte Komponente der Bedeutungsbeschreibung, die Bestimmung der Extension, nach Putnam in den Bereich der Soziolinguistik fällt.

Putnams ‚Stereotypen‘-Begriff ist also strenggenommen nicht direkt mit dem ‚Prototypen‘-Begriff im Sinn von E. Rosch vergleichbar, da er einerseits nicht allein den gesamten Bereich der (lexikalischen) Bedeutung abdeckt und andererseits ‚Bedeutung‘ bei Putnam auch keine rein (kognitions-)psychologische Größe darstellt wie bei Rosch.

Auf die Etablierung der (linguistischen) Prototypensemantik haben aber der eher psychologische Terminus ‚Prototyp‘ und der eher philosophische ‚Stereotyp‘ gleichermaßen eingewirkt, so daß die beiden Termini bald nicht mehr streng unterschieden wurden und nur noch als zwei Annäherungsweisen an ein einziges theoretisches Konzept angesehen wurden. [23]

 

Ch. Schwarze bemerkt in dem Aufsatz "Stereotyp und lexikalische Bedeutung" (1982) zwei wesentliche Übereinstimmungen zwischen den Ansätzen von E. Rosch und H. Putnam: Beide "setzen eine in sich strukturierte reale Welt voraus" (a. a. O., S. 3) und beide Autoren hätten dieselbe Auffassung vom Begriff der lexikalischen Bedeutung, da dieser "auf der Ähnlichkeitsbeziehung und nicht auf dem Begriff des distinktiven Merkmals beruht" (ebd.). Auf dieser Grundlage faßt Schwarze die beiden Ansätze zusammen und vereinheitlicht deren voneinander abweichende Terminologie. Da seiner Ansicht nach also "Prototyp" und "Stereotyp" nun quasi synonym sind, kann er das Vorhandensein zweier verschiedener Ausdrücke für eine neue terminologische Differenzierung nutzen: Schwarze versteht unter "Prototyp" einen typischen Referenten oder ein typisches Hyponym und unter "Stereotyp" die Menge der einen "Prototyp" definierenden Eigenschaften, also die Menge der Eigenschaften eines typischen Referenten oder die Menge der Eigenschaften eines Referenten eines typischen Hyponyms (vgl. ebd.) [24]. In der folgenden schematischen Übersicht führt Schwarze (a. a. O., S. 3f.) seine neue Terminologie für die Beispiele Stuhl und Musikinstrument vor:

Anhand der stereotypischen Eigenschaften, die hierarchisch geordnet sein können, läßt sich die Ähnlichkeit eines Objekts zum Prototyp berechnen (vgl. S. 4). Das Verfahren entspricht in etwa der Berechnung der "cue validity" bei E. Rosch (s. o.). Schwarze skizziert einen Lexikoneintrag im Sinne seines "Stereotypensemantik" genannten Ansatzes, der eine "Synthese aus der Rosch’schen und der Putnam’schen Konzeption" (S. 4) darstellt. Ein solcher Lexikoneintrag müßte folgende Komponenten enthalten:

— die syntaktischen Eigenschaften;

— eine klassifizierende Bedeutungskomponente (a) (semantic marker);

— eine Bedeutungskomponente (b), die den von (a) nicht erfaßten Teil der Bedeutung zusammenfaßt (z. B. ‚Tigerhaftigkeit‘);

— eine Menge von stereotypischen Eigenschaften, die die Interpretation von (b) angeben, in hierarchischer Ordnung;

— die Hyponyme des Worts in der Reihenfolge ihrer Typizität

— die Extension. (S. 5)

Das Stereotyp muß allerdings nicht unbedingt durch ein Merkmalsbündel repräsentiert sein: "An die Stelle der stereotypischen Eigenschaften kann auch die Abbildung eines Prototypen treten" (ebd.). Ch. Schwarzes ‚Stereotypen‘-Begriff steht also in der Nähe der Vorstellung von ‚bildhaften‘ Prototypen bei E. Rosch (s. o.).

 

2.2.1.2 Zusammenfassung

Wenn auch die oben zur Darstellung der "Standardversion" der Prototypensemantik herangezogenen Ansätze nicht ohne weiteres miteinander vergleichbar sind, so soll im folgenden wenigstens der Versuch unternommen werden, die wichtigsten Pointen auf engstem Raum zu präsentieren. Zu diesem Zweck seien vier Grundgedanken angeführt, die allgemein [25] als "typical of prototypicality" angesehen werden (vgl. D. Geeraerts 1989, S. 592f.):

(1) Kategorien können nicht durch notwendige und hinreichende Bedingungen definiert werden.

(2) Die semantische Struktur einer Kategorie läßt sich als "Familienähnlichkeit" beschreiben.

(3) Nicht alle Vertreter einer Kategorie sind gleichermaßen repräsentativ; die Zugehörigkeit ist graduell.

(4) Kategorien sind nicht scharf umgrenzt.

Die folgende graphische Darstellung der Bedeutung von engl. bird veranschaulicht (1)—(3): Alle Mitglieder der Kategorie BIRD weisen die Merkmale 6 und 7 auf, die anderen Merkmale [26] verteilen sich nach dem Muster der "Familienähnlichkeit" auf die übrigen Vertreter. Im schraffiert dargestellten Zentrum stehen die repräsentativsten Vertreter der Kategorie, z. B. robin, die möglichst viele (in diesem Fall sogar alle) Merkmale mit den anderen Vertretern gemeinsam haben (Geeraerts 1989, S. 599):

Auch auf die Gefahr hin, die Aussagekraft der Graphik überzustrapazieren, mag man sich durch die Gestaltung der Rechtecke an eine der möglichen Arten von "frames" erinnert fühlen, die durch bird aktiviert werden. Die Grundidee (4) kommt in obiger Graphik allerdings nicht zum Ausdruck, da die interne Struktur der Kategorie im Vordergrund steht. Möglicherweise kann die Strichelung des äußersten Rahmens als Hinweis auf die ‚verschwommene‘ Grenzziehung gedeutet werden. Dagegen spricht allerdings, daß Geeraerts gerade die Kategorie VOGEL als Beispiel für Kategorien anführt, die eben nicht die Eigenschaft (4) aufweisen, sondern "clearly bounded" sind (vgl. S. 596). Zur Illustration unscharfer Kategoriengrenzen liefert Ch. Schwarze ein anschauliches Beispiel (vgl. ders. 1985, S. 78): (A) stellt den klassischen Ansatz der Kategorisierung am Beispiel der Mengen der Stühle (chaises), der Hocker (tabourets) und der Sessel (fauteuils) dar. Die Kategorien sind scharf umgrenzt; ein jeder Vertreter ist eindeutig einer Menge zugeordnet. (B) verdeutlicht kontrastierend den Ansatz der Prototypensemantik. Ein "stéréotype" (z. B. tabouret) steht im Zentrum einer Kategorie, die anderen Objekte befinden sich dazu in einer Entfernung, die von der Ähnlichkeit mit dem Prototyp abhängt. Die Kategorien sind nicht scharf umrandet; es gibt Objekte, die sich in einer Art ‚Grauzone‘ zwischen tabouret und chaise befinden usw.:

 

2.2.2 Die "erweiterte Version" der Prototypensemantik

2.2.2.1 Ansätze

Der ‚Prototypen‘-Begriff in den Arbeiten von E. Rosch befindet sich in einer stetigen Veränderung. Anfangs dominiert die Vorstellung vom Prototyp als bestem Exemplar einer Kategorie. In der Mitte der 70er Jahre setzt dann die Entwicklung zu einem eher ‚bildhaften‘ ‚Prototypen‘-Begriff ein (s. o. Kap. 2.2.1.1). Diese von Rosch (1975c) gewonnene Auffassung, daß die einem Prototyp zugrundeliegende kognitive Repräsentation eher bildhaften Charakter hat, führt die Autorin (1977a) zu einer gänzlichen Neubestimmung des ‚Prototypen‘-Begriffs: Nun dominiert nicht mehr die Vorstellung von einem konkreten besten Vertreter einer Kategorie, sondern die Idee vom Prototyp als einer mentalen Größe, deren Wesen von der Vorgabe einer möglichst ökonomischen kognitiven Kodierung bestimmt wird (vgl. 1977a, S. 213f.). Rosch versteht den Prototyp nun als ‚bildhafte‘ Größe, die nicht einen (bestimmten) Vertreter einer Kategorie widerspiegelt, sondern alle, als "concrete image of an average category member" (a. a. O., S. 214; vgl. auch dies. 1977c, S. 36f.).

In dem Aufsatz "Principles of Categorization" nimmt Rosch (1978) dann explizit Abstand von der Vorstellung des Prototyps als dem besten Exemplar einer Kategorie: Sie führt zwei Gründe für die verwirrend unterschiedlichen Interpretationen ihrer Ergebnisse an: Einerseits sei ihr ‚Prototypen‘-Begriff irrtümlicherweise zunehmend als vergegenständlicht ("reified") aufgefaßt worden, andererseits seien ihre empirischen Befunde über verschiedene Aspekte der Prototypizität verwechselt worden mit "theories of processing", die eine kognitionspsychologische Erklärung für ihre Befunde darstellen könnten (a. a. O., S. 36).

Daher will Rosch den Begriff "prototype" nun "in as purely structural a fashion as possible" (ebd.) verstanden wissen. Sie beschreibt "effects of prototypicality" (S. 38), ohne die Ursachen für diese Effekte durch ihr Konzept von Prototypizität erklären zu wollen. Um weitere Mißverständnisse zu vermeiden, stellt sie in vier Punkten klar, wie sie nun ihre früheren Forschungsergebnisse (nicht) verstanden wissen will:

1. To speak of a prototype at all is simply a convenient grammatical fiction; what is really referred to are judgments of degrees of prototypicality. Only in some artificial categories is there by definition a literal single prototype. (S. 40)

2. Prototypes do not constitute any particular processing model for categories. (Ebd.)

3. Prototypes do not constitute a theory of representation of categories. (Ebd.)

4. Although prototypes must be learned, they do not constitute any particular theory of category learning. (S. 41)

 

G. Lakoff gilt — spätestens seit seiner umfassenden Veröffentlichung "Women, Fire and Dangerous Things" (1987) — als einer der einflußreichsten Verfechter dieses neuen Prototypizitätskonzepts. Rosch folgend bezeichnet er die prototypischen Effekte als oberflächliche Phänomene:

It is important to bear in mind that prototype effects are superficial. They may result from many factors. In the case of a graded category like tall man, which is fuzzy and does not have rigid boundaries, prototype effects may result from degree of category membership, while in the case of bird, which does have rigid boundaries, the prototype effects must result from some other aspect of internal category structure.

(A. a. O., S. 45)

Lakoff läßt sich aber von der Tatsache, daß ein einziges Kognitionsmodell diese verschiedenen Effekte nicht erklären kann, nicht beirren und zieht für verschiedene Effekte verschiedene Modelle zur Erklärung heran (vgl. S. 68—135). In der Diskussion der "metonymic models" (vgl. S. 77—85) entfaltet Lakoff eine Art Typologie der Prototypen, indem er sieben verschiedene Arten von Prototypen unterscheidet, die Ursachen für verschiedene Arten von prototypischen Effekten darstellen: "social stereotypes", "typical examples", "ideals", "paragons", "generators", "submodels" und "salient examples" (vgl. S. 85—90).

Ch. Fillmore hatte bereits in dem Aufsatz "Towards a Descriptive Framework for Spatial Deixis" (1982) ebenfalls eine Typologie der Prototypen entwickelt. Er unterscheidet anhand der Beispiele climb, long, bird, red, bachelor und decedent sechs verschiedene Typen (vgl. S. 32—34), die auch einige über die Standardversion hinausweisende Aspekte von Prototypizität repräsentieren. G. Kleiber (1990/1993, S. 124f.) hebt besonders hervor, daß Fillmore dem Prototypizitätsurteil der Sprecher nicht mehr genügend Rechnung trage und somit die kognitionspsychologische Fundierung des ‚Prototypen‘-Begriffs der Standardversion nicht mehr gegeben sei.

D. Geeraerts entwirft eine Typologie der Prototypizitätskonzepte auf der Grundlage der von ihm zusammengetragenen vier Grundgedanken der Prototypentheorie (vgl. ders. 1989, S. 592f.; s. o. Kap. 2.2.1.2). Er stellt fest, daß die systematischen Verbindungen zwischen diesen Grundgedanken nicht dahingehend interpretiert werden dürfen, daß alle vier notwendigerweise zusammen das Prototypenkonzept ausmachen (vgl. a. a. O., S. 595). Diese Grundgedanken werden von Geeraerts teilweise modifiziert und zu folgenden "features of prototypicality" umformuliert (vgl. S. 596—598):

(1) Analytic polysemy coupled with intuitive univocality

(2) Clustering of overlapping senses

(3) Degrees of representativity

(4) Fuzzy boundaries

Geeraerts untersucht vier gängige Beispiele für Prototypizität, die nur jeweils einige, aber nicht alle dieser "features" aufweisen, und unterscheidet anhand dieser vier Beispiele vier verschiedene Prototypizitätskonzepte: Das Konzept von engl. bird hat keine unscharfen Grenzen, dem Konzept von engl. red fehlen (1) und (2), das Konzept von ungeraden Zahlen läßt als einzigen Prototypizitätseffekt (3) erkennen, nämlich den, daß die Zahlen unter zehn als repräsentativer für die Kategorie eingestuft werden als größere ungerade Zahlen. Das Konzept von niederl. vers ‘frisch’ umfaßt die Merkmale ‘new, novel, recent’ und ‘in an optimal condition, pure, untained’. Eines dieser beiden Merkmale kann fehlen, z. B. bei der Anwendung von vers auf eine aktuelle Information oder auf frische Luft. Im Rahmen einer streng auf notwendigen und hinreichenden Bedingungen beruhenden Merkmalssemantik würde vers aufgrund der zwei unterschiedlichen Merkmalsstrukturen als polysem eingestuft werden, ebenso wie z. B. bird, für das auch mehrere Bedeutungen angesetzt werden müßten: eine Merkmalsstruktur, die das Merkmal ‘kann fliegen’ enthält, eine, die es nicht enthält usw. (vgl. S. 598). Die Bedeutung von bird wird aber trotz dieser ‚analytischen Polysemie‘ intuitiv als einheitlich aufgefaßt, es liegt also das "feature of prototypicality" (1) vor — ‚Polysemie‘ bei gleichzeitiger Eindeutigkeit und Einheitlichkeit der Bedeutung. Im Gegensatz dazu werden die beiden Bedeutungen von vers intuitiv nicht als einheitlich aufgefaßt. Dennoch gibt es einen prototypischen Anwendungsbereich, in dem die beiden Merkmale sich überschneiden: Obst z. B. wird als frisch bezeichnet, wenn es nicht alt und deshalb in einem guten Zustand ist.

 

2.2.2.2 Zusammenfassung und Kritik

Die "erweiterte Version" der Prototypensemantik nimmt also ihren Anfang bei E. Roschs Klarstellung, daß sie ihre Prototypizitätskonzeption nicht als erklärendes Modell für die kognitiven Aspekte von Kategorisierungen verstanden wissen will, sondern lediglich als Beschreibung von Phänomenen, die einer kognitivistischen Interpretation erst noch bedürfen. Die Versuche anderer Wissenschaftler, die unterschiedlichen prototypischen Effekte zu erklären, führten zu Differenzierungen des ursprünglichen ‚Prototypen‘-Begriffs, die in einige Versuche einer Typologisierung von Prototypizität mündeten. Im folgenden soll kurz erörtert werden, wie sinnvoll G. Kleibers Unterscheidung zwischen "Standardversion" und "erweiterter Version" der Prototypensemantik vor dem Hintergrund der dargestellten Ansätze ist. Kleiber faßt für die "erweiterte Version" zwei Grundthesen zusammen (ders. 1990/1993, S. 113):

(i) Es gibt nur noch prototypische Effekte: Der Prototyp als Vertreter der kategoriellen Begriffe und als strukturelle Basis der Kategorie existiert nicht mehr.

(ii) Die Relation, die die verschiedenen Vertreter derselben Kategorie verbindet, ist bei den Kategorien jedweder Art die der Familienähnlichkeit.

Hinsichtlich der veränderten Stellung des Prototyps in dieser Auffassung von der "erweiterten Version" bemerkt Kleiber (S. 128):

1. Der Prototyp stellt nur noch ein Oberflächenphänomen dar.

2. Er erscheint in unterschiedlichen Formen (daher der Ausdruck prototypische Effekte), je nach der Art der Kategorie, die ihm zugrunde liegt.

3. Seine auf dem Begriff der Familienähnlichkeit beruhende Ausweitung auf das Feld der Polysemie führt zu einer Definitionsverschiebung, durch die er das essentielle definitorische Element der Standardversion verliert: Selbst wenn der Prototyp nur als Effekt betrachtet wird, stellt er nicht mehr unbedingt das Exemplar dar, das von den Sprechern als bestes anerkannt wird.

Punkt 1. geht direkt auf E. Roschs programmatischen Aufsatz (dies. 1978) zurück, während Punkt 2. die daraus resultierende Ausdifferenzierung des ‚Prototypen‘-Begriffs aufgreift. Punkt 3. scheint jedoch in mehrfacher Hinsicht fragwürdig: Kleiber behandelt die Idee von der Beschreibung der Beziehung zwischen den Vertretern einer Kategorie mit dem Begriff "Familienähnlichkeit", als ob sie eine Alternative zur Beschreibung der Struktur von Kategorien im Rahmen der "Standardversion" durch einen Prototyp und davon je nach Ähnlichkeit mit dem Prototyp unterschiedlich weit entfernten Vertretern sei (vgl. ders. 1990/1993, S. 116—123). Rosch wollte aber einerseits die ursprüngliche Konzeption nicht durch das Modell "Familienähnlichkeit" ersetzen, sondern vielmehr spezifizieren. Andererseits ist diese Idee bereits 1975 von Rosch in ihre Prototypenkonzeption eingeführt worden, also einige Zeit vor der Veröffentlichung des Aufsatzes (1978), den Kleiber als den "radikalen Bruch mit den im Rahmen der Standardtheorie vertretenen Ansichten" (ders. 1990/1993, S. 29) bezeichnet. "Familienähnlichkeit" ist eine Grundidee beider "Versionen" der Prototypensemantik, die auch von Kleiber selbst schon zu den sechs von ihm zusammengestellten Thesen der "Standardversion" gerechnet wurde (s. o. Kap. 2.2.1.2). Die mit diesem Begriff beschriebene Struktur für eine "Definitionsverschiebung" des ‚Prototypen‘-Begriffs bei Rosch verantwortlich zu machen, scheint nicht sehr plausibel.

Kleiber sieht die "Ausweitung auf das Feld der Polysemie" als so charakteristisch an, daß er zur Unterscheidung zwischen "Standardversion" und "erweiterter Version" auch die Termini "Monosemieversion" und "Polysemieversion" vorschlägt (vgl. S. 120). Dabei spielt in der "erweiterten Version" Polysemie lediglich eine Rolle bei der Beschreibung einer von zahlreichen Arten von Prototypizitätskonzeptionen, die den verschiedenen prototypischen Effekten Rechnung tragen sollen (vgl. z. B. Geeraerts 1989, S. 597f.; siehe oben 2.2.2.1).

Des weiteren stellt weder die Einführung des Begriffs "Familienähnlichkeit" noch das zunehmende Interesse auch am Problem der Polysemie noch Roschs Richtigstellung (1978) den von Kleiber heraufbeschworenen "radikalen Bruch" dar. Einerseits läßt sich die Veränderung des ‚Prototypen‘-Begriffs, z. B. in den Arbeiten von E. Rosch, als eine kontinuierliche Entwicklung beschreiben, und auch die anderen Autoren trugen auch aus der Perspektive anderer Fächer als der Psychologie nach und nach mit einzelnen neuen Ideen zur Ausdifferenzierung ‚der Prototypentheorie‘ bei. So deutet sich z. B. schon bei der ‚Stereotypen‘-Konzeption von H. Putnam oder Ch. Schwarze (siehe oben Kapitel 2.2.1.1) eine Abkehr vom alten konkreten ‚Prototypen‘-Begriff an. Andererseits revidiert Rosch dadurch, daß sie ihre früheren Arbeiten als mißverstanden und falsch interpretiert bezeichnet, nicht ihre Auffassung, sondern die ihrer einem Irrtum aufsitzenden Anhänger.

Für die Verwirrungen in der Diskussion über Prototypen ist sie aber zu einem großen Teil selbst verantwortlich, so daß ihre Interpretation der Verwirrung als bloßes Mißverständnis nur zum Teil zutrifft: Sie hat ihre Ergebnisse stets suggestiv mit der Kognitionsforschung in Verbindung gebracht und auch nahegelegt, daß diese zur Klärung linguistischer Probleme beitragen könnten. Oben (Kap. 2.2.1.1) wurde die Frage erörtert, ob das Prototypenkonzept auch auf semantische Kategorien zu beziehen ist. Es sollte gezeigt werden, daß Roschs Formulierungen bisweilen die Ergebnisse ihrer Experimente viel vorsichtiger und zurückhaltender zu Phänomenen in benachbarten Disziplinen wie der Linguistik in Beziehung setzen, als der Gang der Argumentation es nahelegt. Rosch zieht aber die Prototypenkonzeption nie explizit zur Lösung linguistischer Probleme heran und erhebt sie auch nicht in den Status eines kognitiven Modells. Dennoch ist Rosch von ihren Anhängern, denen sie nun vorwirft, sie falsch interpretiert zu haben, genau so verstanden worden, wie sie verstanden werden wollte. Als sich aber herausstellte, daß ihr ursprüngliches Prototypizitätskonzept sich nicht ohne weiteres mit einem Kognitionsmodell in Einklang bringen ließ, konnte sie sich einfach auf die Vagheit ihrer Formulierungen zurückziehen, ohne sich widerlegt zu sehen. E. Roschs hinsichtlich der Frage der kognitiven Repräsentation der Prototypen wohl suggestivster Aufsatz "Cognitive Representations of Semantic Categories" (1975c) legt zwar nahe, daß die Ergebnisse als Bausteine zu einem Modell der kognitiven Repräsentationen interpretiert werden können, diese stellen allein aber noch kein Modell dar; sie müssen erst mit weiteren zusammengefügt werden:

The present method makes possible a detailed investigation of the mental representations generated by category terms at any level of abstraction. The addition of such knowledge may make possible a greater understanding of the nature of psychological representation, the nature of taxonomies, and the process of abstraction. (1975c, S. 226f.)

Da die Entwicklung der Ideen der Prototypentheorie eben nicht einen klaren Bruch aufweist, sondern sich vielmehr bei genauerer Betrachtung als Kontinuum präsentiert, kann Kleibers Unterscheidung zwischen "Standardversion" und "erweiterter Version" nur eine Annäherung sein. So verwundert es auch nicht, daß andere Darstellungen zu anderen Einteilungen gelangen: G. Lakoff unterscheidet z. B. nicht zwei, sondern drei Phasen in der Entwicklung des Prototypenbegriffs bei Rosch (vgl. Lakoff 1987, S. 42f.).

Abschließend sei angemerkt, daß der Terminus "erweiterte Version" hinsichtlich des ‚Prototypen‘-Begriffs unglücklich gewählt scheint. Der Begriff büßt nämlich gegenüber der "Standardversion" an Genauigkeit und (postulierter) Erklärungskraft eher ein, als daß er erweitert würde. Dasselbe gilt hinsichtlich der Zahl der ursprünglichen Thesen des Prototypizitätskonzepts: "Von den sechs Thesen der Standardversion bleiben nur zwei erhalten" (Kleiber 1990/1993, S. 113). In dieser Hinsicht böte sich der Terminus ‚eingeschränkte Version‘ eher an. Eine Erweiterung ist allerdings festzustellen hinsichtlich der verschiedensten Gebiete von diachroner Semantik bis zu Syntax und Morphologie, in denen Prototypizitätskonzepte mittlerweile zur Anwendung kommen: "The prototypical conception of categorization has spread from synchronic lexical semantics to other fields of linguistics" (Geeraerts 1989, S. 606). Möglicherweise ist aber Kleibers Terminologie lediglich eine Übertragung der gebräuchlichen Unterscheidung zwischen der "standard theory" und der "extended standard theory" der generativen Transformationsgrammatik.

 

The classification of the constituents of a chaos, nothing less is here essayed.

 

3 Vergleich

3.1 ‚Merkmalssemantik‘ vs. ‚Prototypensemantik‘

Die im Titel der vorliegenden Arbeit formulierte Opposition der Begriffe ‚Merkmalssemantik‘ und ‚Prototypensemantik‘ suggeriert, daß es sich um zwei konkurrierende Theorien sprachlicher Bedeutung handelt, die sich darin unterscheiden, daß erstere die Bedeutungsbestimmung mit Hilfe von Merkmalen vornähme, während letztere die Bedeutung an Stelle der Merkmale durch einen Prototyp erklärte. Die vorangegangenen Ausführungen (Kap. 2.2) lassen aber deutlich erkennen — wie u. a. auch G. Kleiber (1993) bemerkt —,

daß die Prototypensemantik — im Gegensatz zu dem, was oft behauptet wird — in keiner Weise das Prinzip der Komponentialität der Wortbedeutung (d.h. die Berechtigung einer Analyse nach semantischen Merkmalen) in Frage stellt. [...] Der Prototypenansatz ist eine Alternative zu den notwendigen und hinreichenden Merkmalen, aber nicht zu den semantischen Merkmalen schlechthin. (S. 47)

Eine Unterscheidung beider Ansätze läßt sich also nicht durch die Beobachtung durchführen, ob zur Bedeutungsbestimmung auf Merkmale zurückgegriffen wird oder nicht, sondern welcher Status den Merkmalen in der jeweiligen Theorie zukommt. Im folgenden soll diskutiert werden, inwiefern die Opposition von ‚Merkmalssemantik‘ und ‚Prototypensemantik‘ überhaupt eine Gültigkeit hat. Zuerst werden die Termini selbst untersucht; dann sollen die Rolle der Merkmale in den verschiedenen Ansätzen (Kap. 3.3) und der Begriff der Kategorie (Kap. 3.4) im Zentrum der Betrachtung stehen.

 

3.1.1 ‚Merkmalssemantik‘

Der Terminus ‚Merkmalssemantik‘ wird in der Linguistik recht uneinheitlich verwendet und ist — im Gegensatz zu ‚Prototypensemantik‘ — als Sammelbegriff für die in Kapitel 2.1 zusammengefaßten Ansätze nicht weit verbreitet [27]. G. Fanselow und P. Staudacher (1991, S. 64f.) benutzen ‚Merkmalssemantik‘ ausschließlich zur Bezeichnung des Ansatzes von Katz und Fodor (1963) und der unmittelbar daran anknüpfenden Arbeiten, die auf einer Bedeutungsbeschreibung durch "semantic markers" beruhen. Ch. Schwarze (1982, S. 1) verwendet "Merkmalssemantik" zusammen mit "Komponentialanalyse" als synonymische Bezeichnung für "vom Strukturalismus geprägte Wortsemantik".

Wenn man die sehr engbegrenzte Auffassung des Begriffs ‚Merkmalssemantik‘ von G. Fanselow und P. Staudacher dadurch zu erweitern versucht, daß man nicht nur "semantic markers" im Sinne von Katz und Fodor berücksichtigt, sondern semantische Merkmale im allgemeinen, kann der Terminus jedoch nicht mehr die gewünschte Abgrenzung zu ‚Prototypensemantik‘ leisten.

Die Gleichsetzung von Merkmalssemantik und "vom Strukturalismus geprägter Wortsemantik" ist ebenfalls wenig hilfreich, da einerseits "nicht alle strukturellen Semantiker […] Vertreter der Komponentenanalyse gewesen" sind — wie z. B. J. Lyons (1991, S. 16) mit Blick auf die Begründer der Wortfeldkonzeption bemerkt —, und andererseits eine solche Auffassung des Begriffs ‚Merkmalssemantik‘ Ansätze wie den von A. Wierzbicka (s. o. Kap. 2.1.3) ausklammert: Wierzbickas frühe Arbeiten (z. B. 1972) sind weder vom Strukturalismus noch von der Prototypentheorie geprägt, sehr wohl aber dienen die "semantic primitives" als Merkmale zur Bedeutungsbestimmung.

Das Fehlen eines etablierten Terminus, der als Oppositum zu ‚Prototypensemantik‘ dienen könnte, erklärt sich daraus, daß vor dem Aufkommen der Prototypensemantik gar keine Notwendigkeit bestand, Ansätze zur lexikalischen Semantik unter einem solchen Oberbegriff zusammenzufassen. Lediglich um ein vorgeblich höheres Bewußtsein für methodologische Fragen als vorangegangene Forschergenerationen und die methodische ‚Kompatibilität‘ der Semantik mit anderen linguistischen Disziplinen wie der Phonologie zum Ausdruck zu bringen, nannten sich einige Ansätze "strukturelle" bzw. "strukturale" bzw. "strukturalistische Semantik" oder benannten sich schlicht nach dem Verfahren, zu dem es lange Zeit ohnehin keine Alternative zu geben schien: Komponentenanalyse ("componential analysis").

Auch nach dem Auftauchen der Prototypensemantik mündeten die Abgrenzungsversuche der Merkmalssemantik nicht in ein Oppositum zu ‚Prototypensemantik‘. Vielmehr wurden von der Seite der Prototypensemantik polemische Begriffe für den traditionellen Ansatz geprägt, die einzelne Kritikpunkte hervorheben. Ch. Fillmore z. B. verstand seinen Ansatz als "Alternative to Checklist Theories of Meaning" (1975).

Vorläufig ist also der Terminus ‚Merkmalssemantik‘ nur als Oberbegriff für alle diejenigen auf der Analyse von Merkmalen basierenden Ansätze zur Bedeutungsbestimmung zu verstehen, welche sich nicht als in der Nachfolge der Prototypentheorie stehend betrachten. Ein eingehender Vergleich des ‚Merkmal‘-Begriffs der beiden Konzepte in Kapitel 3.3 soll weitere Unterscheidungsmöglichkeiten prüfen.

 

3.1.2 ‚Prototypensemantik‘

Die Bezeichnung der in Kapitel 2.2 wiedergegebenen Ansätze als ‚Prototypensemantik‘ ist insofern erklärungsbedürftig, als daß es sich z. B. bei den Arbeiten von E. Rosch eigentlich nicht um Beiträge zur Semantik im Sinn einer linguistischen Teildisziplin handelt. E. Rosch und andere Vertreter der Prototypentheorie verstehen ihre Beiträge eher allgemein als Beiträge zu einer "theory of categorization" (Rosch 1977a, S. 229):

Die Prototypentheorie ist eine Theorie der Kategorisierung und daher nicht in erster Linie eine Theorie der Wortsemantik. Die Ausdrücke Semantik bzw. semantisch in den Benennungen Prototypensemantik und natürliche semantische Kategorie decken bei den Psychologen nicht die gleichen Phänomene ab wie bei den Linguisten. Die Psychologen können sie verwenden, um von Begriffen und mentalen Repräsentationen zu reden, d.h. ohne sie mit sprachlichen Universalien (Noemen oder semantic primitives) oder bestimmten sprachlichen Zeichen zu verbinden. […] Wenn sich hingegen die Linguisten des Terminus Prototyp bemächtigen, so sehen sie darin in erster Linie eine Theorie, mit der sich das Problem der lexikalischen Bedeutung lösen läßt. Die Prototypensemantik wird somit zur Theorie der "sprachlichen" Bedeutung, insbesondere der Wortbedeutung.

(Kleiber 1990/1993, S. 6)

Dieses unterschiedliche Selbstverständnis kann aber auch nicht zur Unterscheidung von Merkmalssemantik und Prototypensemantik herangezogen werden, da Linguistik allgemein und (lexikalische) Semantik im besonderen — der Unterschiedlichkeit aller ‚Kategorisierungs‘-Begriffe zum Trotz — als ein Spezialfall einer Theorie der Kategorisierung angesehen werden kann:

If linguistics can be said to be any one thing it is the study of categories: that is, the study of how language translates meaning into sound through the categorization of reality into discrete units and sets of units. (W. Labov 1973, S. 342)

Da also "jede Theorie der Kategorisierung […] unausweichlich früher oder später in eine Theorie der lexikalischen Bedeutung" mündet (Kleiber 1990/1993, S. 39), sind Merkmalssemantik und Prototypensemantik beide gleichermaßen als auf Theorien der Kategorisierung basierende ‚Merkmalssemantiken‘ im wörtlichen Sinn anzusehen. Zur Unterscheidung beider Ansätze müssen also nicht nur die jeweiligen ‚Merkmals‘-Begriffe untersucht werden, sondern auch mögliche Unterschiede hinsichtlich der Auffassungen von Kategorien und Kategorisierungen (s. u. Kap. 3.4).

Der Terminus ‚Prototypensemantik‘ ist als Terminus für die ‚Strömung‘ in der lexikalischen Semantik gebräuchlich — und zwar durchaus auch als Selbstbezeichnung —, die sich global auf die in Kapitel 2.2 wiedergegebenen Ansätze beruft (oder auf einen speziellen von diesen). Bisweilen konkurriert er jedoch auch mit ‚Stereotypensemantik‘, wobei damit bald dezidiert auf den ‚Stereotypen‘-Begriff von H. Putnam (oder Ch. Schwarze) Bezug genommen wird, bald auch die Prototypentheorie von E. Rosch mit eingeschlossen ist.

Um anzudeuten, daß es sich eher um ein aus heterogenen Quellen gespeistes Konstrukt als um eine einheitliche Theorie handelt, wird auch zusammenfassend von "Stereo- und Prototypensemantik" gesprochen (Fanselow & Staudacher 1991, S. 67f.).

In der vorliegenden Arbeit wird der Begriff ‚Prototypensemantik‘ aber in einer möglichst inklusiven Weise verwendet, sowohl für die theoretischen Grundlagen und die darauf aufbauenden Konstrukte als auch für die jeweils unterschiedlichsten Ausprägungen dieser Bedeutungsbeschreibungen und ihrer Grundlagen. Im Zug der Metamorphose der Prototypentheorie in ein Grundkonzept der lexikalischen Semantik verwischten nämlich die Grenzen zwischen unterschiedlichen Prototypenkonzeptionen sowie die zwischen der Prototypentheorie und den auf dieser Theorie basierenden Ansätzen zur lexikalischen Semantik. Der ‚Prototypen‘-Begriff in der Linguistik ist aufgrund der Vielzahl von Quellen und des Mangels an Versuchen zur Schärfung der Terminologie — die Arbeit von Ch. Schwarze (1982) ausgenommen — ein hochgradig eklektizistischer:

Thus, it appears that the notion of ‘prototype’ has been used in recent literature as a catch-all notion, somewhat like the notion of performance (opposed to competence) was used in linguistic literature a decade earlier. This is not to question the importance of the insights gained in ‘prototype semantics’, in the broad sense. But it does seam to me that the notion ‘prototype’ should be clarified and sharpened through attempted definitions.

(Wierzbicka 1985, S. 343)

In diesem Sinn einer vagen "catch-all notion" wird auch G. Kleibers Terminus "Standardversion" in der vorliegenden Arbeit verwendet, auch wenn G. Kleibers Unterscheidung zwischen einer "Standardversion" und einer "erweiterten Version" der Prototypensemantik keineswegs — wie in Kapitel 2.2.2.2 zu zeigen versucht worden ist — selbst eine terminologische Präzisierung des ‚Prototypen‘-Begriffs darstellt: Die ‚Standardversion der Prototypensemantik‘ umfaßt die Prototypenkonzeption, die in der Linguistik als allgemeiner Standard anerkannt ist und benutzt wird, nämlich eben das Konglomerat von Ideen, das oben in Kapitel 2.2.1 referiert ist. Der "erweiterten Version" der Prototypensemantik wird hingegen naturgemäß wenig Beachtung in der Linguistik zuteil: In dieser Form stellt die Prototypenkonzeption keine Kognitionstheorie mit erklärender Kraft dar, und eben gerade die kognitivistische Erklärung sprachlicher Phänomene macht die Attraktivität der Prototypentheorie für die Linguistik aus. Deshalb liegt der Schwerpunkt der vorliegenden Arbeit bei der Darstellung der Prototypensemantik auf der ‚Standardversion‘, die "erweiterte Version" der Prototypensemantik spielt in der vorliegenden Arbeit nur am Rand eine Rolle.

 

 

3.1.2.1 Exkurs: ‚Autoprototypizität‘‘

Das Nebeneinander der verschiedenen Auffassungen von Prototypizität führte dazu, daß der Begriff ‚Prototypizität‘ bisweilen selbst als ein prototypischer angesehen wird: "‘prototypicality’ is itself a prototypical notion" (Geeraerts 1989, S. 598). "The concept of ‘prototype theory’ as used in linguistics has itself a prototypical structure" (Posner 1986, S. 59). Den vier von Geeraerts unterschiedenen Typen von Prototypizitätskonzepten (siehe oben 2.2.2.1) liegen jeweils unterschiedliche Kombinationen der vier zentralen Gedanken der Prototypentheorie zugrunde; sie weisen sozusagen "Familienähnlichkeit" auf. Die "features of prototypicality" verteilen sich auf den ‚Bird‘-, ‚Vers‘-, ‚Red‘- und den ‚Odd-number‘-Typ wie folgt (Geeraerts 1989, S. 600):

 

Analytic polysemy coupled with intuitive univocality


+

Clustering of overlapping senses

+

+

Degrees of representativity

+

+

+

+

Fuzzy boundaries

+

+

Bei genauerer Untersuchung erweist sich das Konzept der ‚Autoprototypizität‘ allerdings eher als ein nicht besonders gründlich durchdachtes Bonmot denn als Beitrag zur Klärung des ‚Prototypen‘-Begriffs. Prototypentheoretisch argumentierend könnte man die "cue validity" der Merkmale ermitteln: In Ermanglung kontrastierender Kategorien ergibt sich der Wert einfach aus der Summe der Häufigkeit des Vorkommens eines jeden Merkmals; der Prototypizitätsgrad ergibt sich aus der Summe der "cue validities" aller Merkmale eines Typs:

Merkmal:

"cue validity"

Analytic polysemy coupled with intuitive univocality

1

Clustering of overlapping senses

2

Degrees of representativity

4

Fuzzy boundaries

2

Daraus ergibt sich folgende Autoprototypizitätshitparade:

Platz:

Typ:

Prototypi-

zitätsgrad

1)

Vers

8

2)

Bird

7

3)

Red

6

4)

Odd number

4

 

Dieser Befund paßt allerdings nicht zu den beobachtbaren prototypischen Effekten: Das ‚beste Beispiel‘ der Prototypentheorie (BIRD) rangiert lediglich auf dem zweiten Platz, und die Farbkategorien sind aus dem Fokus der Prototypentheorie entrückt. Diese "familiar examples of prototypicality" weisen nur einen mittleren Prototypizitätsgrad auf, während mit dem Vers-Typ ein "less familiar example" (vgl. Geeraerts 1989, S. 596) durch die ihm von Geeraerts zugesprochenen Merkmale zum Prototyp des Prototypenkonzepts wird. Die Kategorie FRUIT, die alle vier Merkmale aufzuweisen scheint und so von Geeraerts als "good candidate for prototypical prototypicality" (S. 600) gehandelt wird, ist aber in der vorliegenden Zusammenstellung nicht berücksichtigt.

Die oben wiedergegebene Matrix der Merkmale der verschiedenen Typen von Prototypizität — von Geeraerts mit "The prototypicality of ‘prototypicality’" unterschrieben — dient also eigentlich gar nicht zur Ermittlung des prototypischen Prototyps, sondern lediglich zur Unterscheidung eben dieser verschiedenen Typen. Ziel ist gar nicht die Bedeutungsbestimmung der Kategorie PROTOTYP mittels einer Beschreibung der internen Struktur dieser Kategorie; die "features of prototypicality" werden auf ihre rein distinktive Funktion reduziert. Hinsichtlich der verschiedenen Typen von Prototypizität läßt sich also nur ein Nebeneinander verschiedener Auffassungen feststellen.

Die Unzulänglichkeit des Begriffs ‚Autoprototypizität‘ gründet vermutlich darin, daß der ‚Prototypizitäts‘-Begriff als Element der Prototypentheorie ein Element einer Metasprache darstellt, die sich einfach anders verhält als der eigentliche Objektbereich der Theorie und somit selbst kein geeignetes Objekt für die Theorie darstellen kann.

 

3.1.3 "Hybrid theories"

Es gibt nicht nur innerhalb der Prototypensemantik verschiedene Auffassungen von Prototypizität, die auf Kombinationen unterschiedlicher Grundgedanken beruhen, sondern auch Ansätze, die Grundzüge der Merkmalssemantik und der Prototypensemantik in sich vereinigen:

The confusion associated with the notion of prototypicality is further increased by the fact that more straightforwardly prototypical approaches are surrounded by hybrid theories that contain particular strategies for combining classical discreteness with typically prototypical phenomena. (Geeraerts 1989, S. 605)

Geeraerts führt als Beispiele für "theories that combine aspects of the classical approach to semantic structure with aspects of the prototypical conception" (1989, S. 602) zwei Ansätze an, die "to some extent semiclassical as well as semiprototypical" (ebd.) sind: den von A. Wierzbicka (1985; s. o. Kap. 2.1.3) und den von H. Putnam (1975; s. o. Kap. 2.2.1.1). Wierzbicka berücksichtigt z. B. für ihre Analyse der prototypischen Bedeutungen keine kontextuellen Faktoren, deren Wichtigkeit bei der Verwendung von Ausdrücken W. Labov oder G. Fillmore (s. o. Kap. 2.2.1.1) betont haben, sondern beschränkt sich auf die Beschreibung der "structure of the concept" lexikalischer Einheiten (Wierzbicka 1985, S. 18). Auch methodologisch weicht sie von der ‚empirischen‘ Bedeutungsbestimmung der Prototypensemantik ab: Die Beschreibung des Prototyps "is best done not through laboratory experiments, and not through reports of casual, superficial impressions or intuitions (either of ‘informants’ or the analyst himself), but through methodical introspection and thinking" (Wierzbicka 1985, S. 19; vgl. Geeraerts 1989, S. 602—604).

D. Geeraerts (vgl. S. 604f.) interpretiert die Einbeziehung soziolinguistischer Faktoren in einen prototypischen Ansatz durch H. Putnam als Versuch, Aspekte des klassischen Ansatzes beibehalten zu können. Was Putnams Ansatz aber m. E. noch deutlicher als "hybrid theory" kennzeichnet, ist, daß er einerseits den stereotypischen Merkmalen gleichzeitig den Status von "necessary conditions" wie in der Merkmalssemantik verleiht und sie aber auch als Alternative zu den notwendigen und hinreichenden Bedingungen verstanden wissen will: "I mean ‘necessary’ in a loose sense" (Putnam 1975, S. 147). Andererseits übernimmt er zusätzlich zum Stereotyp die "semantic markers" von Katz & Fodor (1963; s. o. Kap. 2.1.2) — wenn auch leicht modifiziert (vgl. Putnam 1975, S. 188f.).

Es gibt aber nicht nur Ansätze aus dem Bereich der Prototypensemantik, die an einigen Positionen der Merkmalssemantik festhalten, sondern auch den umgekehrten Fall, daß in der Tradition der Merkmalssemantik verwurzelte Ansätze aus der Prototypensemantik stammende Ideen übernehmen.

M. Faust greift in seiner Untersuchung der "Wortfeldstruktur und Wortverwendung" (1978) im Bereich der Sitzmöbel sowohl auf die traditionellen europäischen Arbeiten zu diesem Thema (z. B. Gipper 1959, Pottier 1963) zurück als auch auf den Ansatz von W. Labov (1973). Seinen eigenen Beitrag versteht Faust "als Versuch einer Synthese" (1978, S. 367), wobei "die strukturelle Bedeutung […] aus der Perspektive der Sprachverwendung empirisch untersucht werden" soll (S. 382). Von Labov wird die ‚empirische‘ Methode übernommen, indem Faust Labovs Versuchsanordnung (s. o. Kap. 2.2.1.1) für die deutschen Bezeichnungen für Sitzmöbel nachstellt: Er legt Testpersonen schematische Zeichungen von Sitzmöbeln vor, die systematisch in Sitzhöhe, Sitzbreite, dem Vorhandensein von Polstern, Arm- und Rückenlehnen usw. variieren und fragt sie nach den Bezeichnungen für die abgebildeten Objekte. Die Ergebnisse zeigen zwar, daß zwischen den Objekten, die am besten die Standardform des jeweiligen Sitzmöbels repräsentieren, eine "‚Vagheits‘-Zone" liegt (vgl. S. 383), diese kommt aber bei der graphischen Darstellung der untersuchten Ausdrücke als "Wortfeld" mit "unmittelbaren Oppositionen" nicht zum Ausdruck (S. 391):

Die Übernahme des ‚empirischen‘ Ansatzes und der ‚Vagheits‘-Idee wird also nicht als Alternative zur Merkmalssemantik aufgefaßt, sondern als Ergänzung. In diesem Sinn argumentiert auch U. Hoinkes (1995, S. 323; s. o. Kap. 2.1.1.1): Eine reine Merkmalsanalyse reiche zur Bedeutungsbestimmung nicht aus, es müßten auch empirische referentielle Untersuchungen berücksichtigt werden.

Der Ansatz von W. v. Held (1976; s. o. Kap. 2.1.1.1) kann ebenfalls als "hybrid theory" bezeichnet werden. Er berücksichtigt das Problem der Vagheit und unterscheidet zwischen Merkmalen, die den Charakter von notwendigen und hinreichenden Bedingungen haben ("Typwissen"), und solchen, die nicht auf alle Vertreter einer Kategorie zutreffen müssen ("Tatsachenwissen"). Die Bedeutung konstituiert sich aber aus beiden Arten von Merkmalen (vgl. S. 170).

Die Übernahme von einzelnen (dekontextualisierten) Theoremen aus der Kognitionspsychologie oder der Philosophie in die Linguistik ist aber nicht die einzige Ursache für die Entstehung solcher "hybrid theories". Die Verwirrung, die aus der stetigen Veränderung des Prototypizitätskonzepts an sich erwächst, läßt auch innerhalb der Kognitionswissenschaft "hybrid theories" entstehen, die einige Ideen der Prototypentheorie mit dem klassischen Ansatz verschmelzen (vgl. Lakoff 1987, S. 136—152).

 

3.2 Schematischer Vergleich

Um untersuchen zu können, was Merkmalssemantik und Prototypensemantik als semantische Theorien leisten, soll zunächst schematisch dargestellt werden, auf welche Weise man mit Hilfe der verschiedenen Konzeptionen zu einer Bedeutungsbestimmung gelangen kann. Zu diesem Zweck sollen im folgenden die verschiedenen Ansätze beider Theorien, deren Heterogenität im vorangehenden bereits angedeutet wurde, auf zwei extrem simplifizierte ‚Grundgerüste‘ reduziert werden, um überhaupt eine annähernde Vergleichbarkeit zu simulieren.

Zunächst muß, um die Methoden der Bedeutungsbestimmung von Merkmalssemantik und Prototypensemantik miteinander vergleichen zu können, ein einheitlicher ‚Bedeutungs‘-Begriff unterstellt werden. Der Einfachheit halber verstehen wir vorläufig unter ‚Bedeutung‘ die Fähigkeit eines Worts, für eine Klasse von Dingen verwendet zu werden. Spezifiziert wird die Bedeutung durch die Eigenschaften (Merkmale) der Klasse von Dingen, für die man ein bestimmtes Wort benutzen kann. Die Bedeutungsbestimmung des Worts Stuhl in der Merkmalssemantik lautet:

Die Bedeutung von Stuhl =

[‘zum Sitzen für eine Person’, ‘hat vier Beine’, ‘hat eine Rückenlehne’, ‘hat keine Armlehnen’, ‘ist nicht gepolstert’]

Diese Aussage entspricht einer Aussage über die Zugehörigkeit eines Objekts zur Kategorie STUHL, wobei in der Merkmalssemantik die Merkmale den Status von notwendigen und hinreichenden Bedingungen haben. Also ist jedes Objekt, das genau diese Merkmale aufweist, ein Vertreter der Kategorie STUHL und kann mit dem Wort Stuhl bezeichnet werden. Ein Objekt, das nicht alle die Merkmale aufweist, — z. B. ein gepolsterter Stuhl — kann auch nicht mit dem Wort Stuhl bezeichnet werden.

In der Prototypensemantik erfolgt die Bedeutungsbestimmung ebenfalls mit Hilfe von Merkmalen (s. u. Kap. 3.3). Darüber hinaus kommt die Prototypizitätskonzeption zum Einsatz. Prototypizität ist eine Konzeption, welche die Natur der Kategorien betrifft. Kategorien sind "concepts designable by words" (Rosch 1973b, S. 113). So haftet also z. B. der Kategorie STUHL das Wort Stuhl an. Die Bedeutungsbestimmung des Worts Stuhl in der Prototypensemantik lautet:

Die Bedeutung von Stuhl ist die Bedeutung des Prototyps der Kategorie STUHL =

[‘zum Sitzen für eine Person’, ‘hat vier Beine’, ‘hat eine Rückenlehne’, ‘hat keine Armlehnen’, ‘ist nicht gepolstert’ {sowie weitere ‚enzyklopädische‘ Merkmale, z. B. ‘steht in der Küche’, ‘man sitzt beim Essen drauf’, ‘wenn man zu stark zappelt, fällt man um’, …}]

oder verkürzt:

Die prototypische Bedeutung von Stuhl =

[‘zum Sitzen für eine Person’, ‘hat vier Beine’, ‘hat eine Rückenlehne’, ‘hat keine Armlehnen’, ‘ist nicht gepolstert’ {sowie weitere ‚enzyklopädische‘ Merkmale, z. B. ‘steht in der Küche’, ‘man sitzt beim Essen drauf’, ‘wenn man zu stark zappelt, fällt man um’, …}]

Merkmalssemantik und Prototypensemantik unterscheiden sich also hinsichtlich der Methode der Bedeutungsbestimmung lediglich dadurch, daß eine mit Hilfe der Prototypensemantik getroffene Aussage über eine Bedeutung eine Erweiterung gegenüber einer mit Hilfe der Merkmalssemantik getroffenen Aussage darstellt. Die Erweiterung trägt einer anderen Auffassung von der Natur von Kategorien Rechnung und berücksichtigt zusätzlich zu den Merkmalen der Merkmalssemantik noch weitere, ‚enzyklopädische‘ Merkmale. Insofern kann Prototypensemantik als Methode der Bedeutungsbestimmung nicht als Alternative zur Merkmalssemantik, sondern als weniger strenge, ‚korrigierte‘ Version der Merkmalssemantik bezeichnet werden. Der Prototypenansatz ist "another way of looking at compositional analysis which makes it less obviously defective" (J. Lyons 1995, S. 116).

Die Bedeutungsbestimmung, die Analyse eines Wortes im Hinblick auf seine konstitutiven semantischen Merkmale, erfolgt in der Merkmalssemantik relational: Die Merkmale haben distinktiven Charakter, das heißt, sie grenzen die Bedeutung eines Worts von den Bedeutungen der ‚benachbarten‘ Wörter ab. Im Fall von Stuhl dient ‘zum Sitzen für eine Person’ zur Abgrenzung von Bank, ‘hat eine Rückenlehne’ zur Abgrenzung von Hocker, usw. In der Merkmalssemantik ist die Bedeutungsbestimmung mit der Bestimmung der Zugehörigkeit eines Vertreters zu einer Kategorie gleichzusetzen.

In der Prototypensemantik ist das Verfahren der Zugehörigkeitsbestimmung jedoch von dem der Bedeutungsbestimmung verschieden: Die Bedeutungsbestimmung erfolgt nicht direkt relational. Die Liste der Merkmale des Prototyps einer Kategorie stellt keine Abgrenzung zu benachbarten Kategorien dar, sondern eine umfassende wesenhafte Beschreibung des Prototyps. Die Bestimmung der Zugehörigkeit eines Vertreters zu einer Kategorie erfolgt hingegen relational: Die Ähnlichkeit eines Vertreters zum Prototyp ist ausschlaggebend für die Kategorienzugehörigkeit des Vertreters. Der Grad der Ähnlichkeit eines peripheren Vertreters bemißt sich aus seinem Abstand zum Zentrum der Kategorie.

Eine Bedeutungsanalyse im Rahmen der Prototypensemantik, wie sie oben schematisch vorgeführt wurde, setzt die Bestimmung des Prototyps der Kategorie voraus, der das zu bestimmende Wort anhaftet. Man muß also wissen, was der Prototyp der Kategorie STUHL ist, um die Bedeutung des Worts Stuhl bestimmen zu können. Die Bestimmung des Prototyps erfolgt durch die Bestimmung der "cue validities" der Merkmale aller Vertreter dieser Kategorie, die sich danach berechnen, wievielen Vertretern einer Kategorie die Merkmale jeweils gemeinsam sind. Der Bestimmung des Prototyps muß also die Bestimmung der Zugehörigkeit der Vertreter zur jeweiligen Kategorie vorausgegangen sein, die relational erfolgt (s. o.). Insofern kann auch von der Bedeutungsbestimmung im Rahmen der Prototypensemantik gesagt werden, daß sie auf einer relationalen Grundlage erfolgt, auch wenn sie im Gegensatz zur Bedeutungsbestimmung im Rahmen der Merkmalssemantik nicht direkt relational ist.

Es kann also als gemeinsamer Wesenszug von Merkmalssemantik und Prototypensemantik angesehen werden, daß die Bedeutungsbestimmung auf einer relationalen Grundlage erfolgt, das heißt, daß eine Bedeutungsbestimmung ohne die Beschreibung von Beziehungen zwischen ‚benachbarten‘ Wörtern in beiden Theorien unmöglich ist. Allerdings ist das Verhältnis des zu beschreibenden Worts zu den Wörtern, deren Relation zueinander der Bedeutungsbestimmung vorgelagert bestimmt werden muß, in der Merkmalssemantik ein anderes als in der Prototypensemantik: Zur merkmalssemantischen Analyse von Vogel ist die fragliche Relation die von Vogel selbst zu ‚benachbarten‘ Kategorien wie Fisch, Säugetier, Reptil usw.; eine prototypensemantische Analyse von Vogel basiert jedoch auf der Analyse der Relation der Vertreter dieser Kategorie. Die fragliche Relation ist also die von Pinguin und Huhn zu Rotkehlchen usw.

Die durch diesen schematischen Vergleich der Methoden zur Bedeutungsbestimmung ermittelten strukturellen Gemeinsamkeiten und Unterschiede von Merkmalssemantik und Prototypensemantik werden unten in Kapitel 4 diskutiert. Im folgenden werden die Unterschiede und Gemeinsamkeiten von Merkmalssemantik und Prototypensemantik hinsichtlich der Merkmale und der Kategorien genauer betrachtet.

 

3.3 Merkmale

Die durch die Bezeichnung als "checklist theory" von Seiten der Prototypensemantik ausgedrückte Kritik an der Merkmalssemantik erweckt den Eindruck, die Prototypensemantik wende sich überhaupt gegen jede Form der Merkmalsanalyse. Die in Kapitel 2.2.1.1 dargestellten Ansätze zeigen aber deutlich, daß die Merkmalsanalyse nicht durch eine Prototypenkonzeption ersetzt werden soll, sondern vielmehr die Grundlage für die Bestimmung des Prototyps und der Entfernung der anderen Vertreter einer Kategorie zu diesem Prototyp ist — z. B. durch die Berechnung von "cue validities".

D. Geeraerts geht sogar soweit zu behaupten, daß es nicht bloß eine bemerkenswerte Übereinstimmung ist, daß Merkmalssemantik und Prototypensemantik zur Bedeutungsbeschreibung beide eine Zerlegung in Merkmale vornehmen, sondern daß dies sogar unvermeidbar sei. Eine Semantik ohne eine Form von "componential analysis" ist für ihn schlicht unvorstellbar:

The prototypists’ reaction against the featural approach had, however, the negative side effect of creating the impression that prototypical theories rejected any kind of componential analysis. This is a misconception for the simple reason that there can be no semantic description without some sort of decompositional analysis.

(Geeraerts 1989, S. 588)

Für das allgemeine Interesse der Semantik an einer Zerlegung der Bedeutungen in Komponenten führt Ch. Schwarze vielfältige Gründe an, wie z. B. u. a. die durch eine methodologische Einheitlichkeit erhöhte Integrationsfähigkeit der Semantik in andere linguistische Teildisziplinen (1982, S. 6). Im Rahmen des Vergleichs von Merkmalssemantik und Prototypensemantik ist hier aber von besonderem Interesse, worin sich nun Merkmalssemantik und Prototypensemantik hinsichtlich der Merkmalsanalyse unterscheiden: Die Prototypensemantik kritisiert an der Merkmalsanalyse der Merkmalssemantik, daß der Status der Merkmale der von notwendigen und hinreichenden Bedingungen ist: Wenn z. B. in der Analyse der französischen Wörter für Sitzgelegenheiten von B. Pottier (1963; s. o. Kap. 2.1.1.1) eines der Seme ‘mit Rückenlehne’, auf Beinen’, ‘für 1 Person’, ‘zum Sitzen’, ‘mit Armlehne’, ‘aus festem Material’ nicht zutrifft, so kann es sich bei dem fraglichen Objekt nicht um ein fauteuil handeln. In der europäischen strukturellen Semantik ergibt sich die streng definitorische Auffassung von den Merkmalen aus der bewußt gewählten Parallele zu den distinktiven Merkmalen der Phonologie in der Version des Prager Strukturalismus. In der amerikanischen Tradition stellt ein Merkmalsbündel die notwendigen und hinreichenden Bedingungen für ein Objekt dar, um mit einem bestimmten Ausdruck bezeichnet werden zu können: "This bundle of features states the necessary and sufficient conditions which an object must satisfy if it is to be a denotatum of the term so defined" (Lounsbury 1964, S. 1074; vgl. auch ders. 1956, S. 167 und Nida 1975, S. 32).

Im Rahmen der Prototypensemantik haben die Merkmale nicht diesen strengen definitorischen Charakter: Dadurch kann z. B. ein Sessel ohne Armlehnen immer noch als Sessel bezeichnet werden, wenn auch nicht unbedingt als ein prototypischer. So kann die Prototypensemantik erklären, warum ein vegetarisch lebender dreibeiniger Albino-Tiger als Tiger erkannt und bezeichnet wird, obwohl er nicht unter die klassische Definition von Tiger fällt (vgl. Putnam 1975, S. 170; s. o. Kap. 2.2.1.1).

Die Merkmale selbst, die in der Prototypenanalyse zum Einsatz kommen, unterscheiden sich dabei im allgemeinen nicht von denen der Merkmalssemantik (vgl. z. B. Rosch & Mervis 1975, S. 576); lediglich die definitorische Kraft der Merkmale hat in der Prototypensemantik einen anderen theoretischen Wert. Der Status der Merkmale als notwendige und hinreichende Bedingungen (NHB) in den im Rahmen der vorliegenden Arbeit Merkmalssemantik genannten Ansätze ist z. B. für G. Kleiber so bezeichnend, daß er sie unter dem Terminus "NHB-Modell" zusammenfaßt (vgl. ders. 1990/1993, S. 11—29).

Die Ablösung von der Beschränkung der Funktion der Merkmale auf reine Distinktivität führt im Zuge der Prototypensemantik zur Aufhebung der Grenze zwischen semantischem Wissen und enzyklopädischem Wissen (vgl. Geeraerts 1989, S. 589). Die Merkmale sollen beispielsweise nicht (nur) die Unterscheidung von Sessel und Stuhl leisten, sondern vielmehr eine möglichst umfassende Charakterisierung des prototypischen Sessels usw. leisten.

Allerdings liegt nicht allen in der Merkmalssemantik zur Bedeutungsbeschreibung herangezogenen Merkmalen die Idee von notwendigen und hinreichenden Bedingungen zugrunde: Bei L. Hjelmslev steht z. B. der definitorische Charakter der Inhaltsfiguren im Hintergrund, sie sind eher die Endpunkte einer erschöpfenden Analyse, die von der Textebene ausgehend durch Zerlegungen zu immer kleineren Einheiten gelangt, als Ausgangspunkte für semantische Definitionen (s. o. Kap. 2.1.1.1). Des weiteren gibt es Ansätze, die zusätzlich zu Merkmalen im Sinn von notwendigen und hinreichenden Bedingungen für die Bedeutungsbeschreibung auch andere Merkmale heranziehen, wie das "Tatsachenwissen" bei W. v. Held (s. o. Kap. 3.1.3). Auch D. Bolingers Kritik (1965, S. 558—564; s. o. Kap. 2.1.2) an der Unterscheidung von "semantic markers" und "distinguishers" bei Katz und Fodor (1963) läuft darauf hinaus, die Unterscheidung von Weltwissen ("knowledge of the world") und sprachlichem Wissen ("knowledge of the language") aufzuheben. Einerseits kann Desambiguierung bisweilen nur mit Hilfe von Merkmalen erreicht werden, die sich aus sehr speziellem Weltwissen speisen, also von Katz und Fodor als "distinguishers" angesehen werden, andererseits kann auch die Quelle der "semantic markers" für Bolinger nichts anderes als das Weltwissen sein: "Where do markers like (Animal), (Physical Object), (Young), and (Female) come from if not from our knowledge of the world?" (1965, S. 568). Verfechter der von Ch. Fillmore geforderten "much more ‘encyclopedic’ view of semantics" (ders. 1984, S. 141) finden sich also offenbar auch innerhalb der Merkmalssemantik.

Allerdings haben nicht alle Merkmale in allen Ansätzen der Merkmalssemantik ausschließlich distinktive Funktion. G. Hilty (1995) z. B. unterscheidet zwischen rein distinktiven "Semen", die "aus dem Vergleich der verschiedenen Glieder des Felds gewonnen werden" und eher referentiellen "semantischen Merkmalen", die "in einer syntagmatischen Analyse gewonnen werden" (S. 297). Diese Unterscheidung entspricht in etwa der zwischen "Sem" und "Dimension" bei H. Geckeler (1971, S. 247; s. o. Kap. 2.1.1.1). Die Unterscheidung verschiedener Dimensionen gerät bisweilen mit der eigentlich angestrebten Einheitlichkeit der Seme in Konflikt. Für die Analyse der deutschen Ausdrücke für Sitzgelegenheiten setzt U. Hoinkes (1995; s. o. Kap. 2.1.1.1) ausschließlich Seme an, die dem Aspekt der Funktionalität der Sitzmöbel Rechnung tragen. Die Einteilung dieser Seme in eine physische, eine psychische und eine soziale Dimension kollidiert aber mit der Einheitlichkeit der Seme. Warum Hoinkes z. B. ‘zum Anlehnen’ einer psychischen Dimension zuschreibt, während ‘zum Sitzen’ der physischen Dimension zugerechnet wird, ist unklar. Auch in der graphischen Darstellung der Analyseergebnisse (s. o. Kap. 2.1.1.1) ist die Trennung der drei Dimensionen nicht plausibel: Der ‘zum Sitzen’-Block erweckt den Eindruck, als wolle er sich von der physischen Dimension loslösen und der psychischen anschließen; der Dimension-3-Block mit den Semen ‘für 1 Person’ und ‘für mehrere Personen’ ist durch einen Pfeil mit ‘zum Sitzen’ (Dimension 1) verknüpft. Darüber hinaus scheint die Einheitlichkeit der Seme eher auf der Oberfläche der Formulierung der Merkmale angesiedelt zu sein. Das funktional paraphrasierte Sem ‘zum Anlehnen’ ist sicherlich nicht wesenhaft verschieden von dem von B. Pottier (1964/1978, S. 71) angeführten Sem ‘mit Lehne’.

Die Auffassungen über die Natur der Merkmale gehen noch weiter auseinander, wenn man die Grenzen zwischen den verschiedenen Traditionen der Merkmalssemantik überschreitet. H. Geckeler stellt mit Nachdruck klar, "daß die semantic markers von KF [Katz & Fodor 1963] prinzipiell nicht mit den Semen der modernen europäischen strukturellen Semantik zusammenfallen" (1971, S. 231). Den entscheidenden Unterschied sieht Geckeler in der Methode, mit der die Merkmale ermittelt werden. Die "semantic markers" von Katz und Fodor werden "aus Wörterbuchartikeln ‚herausdestilliert‘" (Geckeler 1971, S. 232), was natürlich keine zulässige heuristische Methode darstellt, während die Seme "durch die Kommutationsprobe entdeckt" würden (ebd.). Geckeler übersieht allerdings, daß der Beitrag von Katz und Fodor nicht als linguistische Analyse des Worts bachelor oder des Satzes The man hits the colorful ball gedacht war, sondern als Vorschlag für die Form einer hypothetischen semantischen Theorie. Die vorgestellten Analysen haben lediglich illustrativen Charakter, und der Rückgriff auf vorhandene Wörterbuchdefinitionen stellt keinen methodologischen Vorschlag zur Ermittlung von Merkmalen dar. Die von der strukturellen Semantik favorisierte Kommutationsprobe wird in der Regel auch nicht vollständig vorgeführt, sondern dient lediglich zur Verifizierung des bereits intuitiv Gewußten: "L’existence apriorique de l’hypothèse naïve caractérise toute recherche scientifique" (Greimas 1966, S. 34). In der Prototypensemantik erfolgt dagegen die Bestimmung der Merkmale auf empirischer Grundlage: Probanden werden aufgefordert, alle Eigenschaften eines Objekts aufzuzählen, die ihnen einfallen (vgl. Rosch & Mervis 1975, S. 578).

Einige Konzeptionen aus dem Bereich der Merkmalssemantik beinhalten die Vorstellung, daß Merkmale minimale, nicht weiter dekomponierbare Größen darstellen (z. B. Hjelmslev 1943/1974, Wierzbicka 1972; s. o. Kap. 2.1.1.1 bzw. 2.1.3). Die Merkmale der Prototypensemantik zielen hingegen eher auf eine möglichst umfassende Charakterisierung der Objekte als auf Beschreibungsökonomie.

Die Prototypensemantik kritisierte an der Merkmalskonzeption der Merkmalssemantik unter anderem, daß die von ihr verwendeten Merkmale keine Eigenschaften einer mentalen Größe seien, sondern lediglich die Eigenschaften der bezeichneten (extensionalen) Objekte. G. Lakoff (1987, S. 51) stellt dagegen eine Konzeption, die ein Merkmal als "interactional property–the result of our interactions as part of our physical and cultural environments given our bodies and our cognitive apparatus" begreift.

Die Merkmale werden in der Prototypensemantik im Gegensatz zur Merkmalssemantik nicht als gleichwertig angesehen. Die Vorstellung von unterschiedlichen "cue validities" der Merkmale ist der Ausgangspunkt für die hierarchische Strukturierung der Kategorien. Das Merkmalsbündel eines Vertreters ist ausschlaggebend für die Positionierung eines Vertreters im Zentrum oder in einem peripheren Bereich einer Kategorie. In der Konzeption der Merkmalssemantik werden die Merkmale einer Kategorie zwar prinzipiell als gleichwertig angesehen, eine gewisse Hierarchie der Merkmale kann aber z. B. in dem Ansatz B. Pottiers (1964) in dem Verhältnis zwischen (einfachen) "Semen" und solchen, die ein "Archisemem" bilden, gesehen werden, oder in der Unterscheidung zwischen rein distinktiven und nicht rein distinktiven Merkmalen bei G. Hilty und H. Geckeler (s. o.). J. Lyons (1977, S. 321) referiert einen Ansatz der generativen Semantik, der die semantischen Merkmale ‘cause’, ‘become’, ‘not’ und ‘alive’ des Verbs engl. kill als einer syntaktischen Struktur vergleichbar hierarchisch gegliedert darstellt:

(cause (become (not (alive)))).

Der ‚Merkmals‘-Begriff ist also innerhalb der als ‚Prototypensemantik‘ und ‚Merkmalssemantik‘ zusammengefaßten Ansätze ein recht heterogener. Gleichzeitig konnten hinsichtlich der Auffassung der Natur der Merkmale wesentliche Gemeinsamkeiten zwischen der Merkmalssemantik und der Prototypensemantik festgestellt werden. Die Grenze zwischen Konzeptionen, die sich darin unterscheiden, ob die Merkmale als notwendige und hinreichende Bedingungen aufgefaßt werden oder nicht, verläuft nicht entlang der in der vorliegenden Arbeit getroffenen Unterscheidung zwischen ‚Merkmalssemantik‘ und ‚Prototypensemantik‘. Daher wird an der vorläufigen Unterscheidung zwischen Merkmalssemantik und Prototypensemantik (s. o. Kap. 3.1.1) festgehalten.

 

3.4 Kategorien und Kategorisierungen

Dem Begriff der Kategorie bzw. der Kategorisierung kommt in der Prototypensemantik eine zentrale Bedeutung zu. Um die Verfahren zur Bedeutungsbestimmung in der Merkmalssemantik und Prototypensemantik zu vergleichen, wurden oben (Kap. 3.2) Aussagen über Bedeutungen vereinfachend mit Aussagen über die Zugehörigkeit eines Vertreters zu einer Kategorie gleichgesetzt. Die zahlreichen semiotischen bzw. philosophischen Probleme, die durch die Begriffe ‚Bedeutung‘ und ‚Kategorie‘ aufgeworfen werden, können im Rahmen der vorliegenden Arbeit nicht behandelt werden. In den folgenden Ausführungen wird ‚Kategorisierung‘ weiter in einem naivrealistischen Sinne allgemein als eine grundlegende menschliche Verstandestätigkeit aufgefaßt. Dabei muß die Frage außer acht bleiben, ob sprachliche Kategorisierung lediglich die Ähnlichkeiten bzw. Gleichheiten der Dinge abbildet, oder ob erst durch sprachliche Kategorisierung Dinge hinsichtlich ihrer Ähnlichkeit bzw. Gleichheit zusammengefaßt werden, die eigentlich völlig unabhängig voneinander existieren. Diesem vereinfachten, der Merkmalssemantik wie der Prototypensemantik gleichermaßen unterstellten, Verständnis von ‚Kategorie‘ und ‚Kategorisierung‘ entspricht in etwa folgende Erläuterung von J. R. Taylor (1989, S. vii):

Whenever we use the word dog to refer to two different animals, or describe two different colour sensations by the same word, e.g. red, we are undertaking acts of categorization. Although different, the two entities are regarded in each case as the same.

Nachdem oben (Kap. 3.2) bereits die unterschiedlichen Verfahren in der Merkmalssemantik und Prototypensemantik zur Bestimmung der Zugehörigkeit eines Vertreters zu einer Kategorie schematisch beschrieben wurden, soll nun untersucht werden, worin sich die Auffassungen der Merkmalssemantik und Prototypensemantik hinsichtlich der Art der Zugehörigkeit eines Vertreters zu einer Kategorie unterscheiden.

 

3.4.1 Graduelle Kategorienzugehörigkeit und vage Kategorienbegrenzung

Im Rahmen der Merkmalssemantik ist ein Objekt aufgrund seiner Merkmalsstruktur entweder ein Vertreter einer Kategorie oder nicht. Gegen diese Auffassung führt die Prototypensemantik an, daß ein Tiger ohne schwarz-gelbe Streifen als Tiger erkannt wird, obwohl er nicht alle (prototypischen) Merkmale der Kategorie TIGER aufweist.

Die Prototypenkonzeption trägt aber nicht nur dem Phänomen Rechnung, daß der Pinguin ein Vertreter der Kategorie VOGEL ist, obwohl er nicht fliegen kann, sondern auch, zu welchem Grad er repräsentativ für die Kategorie ist: Der Pinguin ist seinen Merkmalen nach ein ‚schlechterer‘ Vogel als das Rotkehlchen und das Huhn ein noch schlechterer. Dieser Umstand wird in der Prototypensemantik als ‚graduelle Kategorienzugehörigkeit‘ oder ‚unscharfe Kategorienbegrenzung‘ bezeichnet. Diese beiden Bezeichnungen stehen aber für ein und denselben Gedanken, der von G. Lakoff (1972) von der Mengenlehre auf die Linguistik übertragen wurde: Nach L. Zadehs (1965) Revolutionierung der Mengentheorie kann in sogenannten "fuzzy sets" ein Element als einer Kategorie graduell zugehörig beschrieben werden:

Im Unterschied zur klassischen oder scharfen (crisp) Mengentheorie, in der ein Individuum alternativ im Hinblick auf eine Menge entweder Element ist oder nicht, kann man in der neuen Theorie die Zugehörigkeit eines Individuums zu einer deswegen unscharf genannten Menge graduell angeben. Das geschieht vermöge der charakteristischen Funktion mA(x), die für ein Element x der Menge A nicht nur – wie im Sinne der klassischen Mengen – die Werte 0 (für nicht-zugehörig) oder 1 (für zugehörig) annehmen kann, sondern auch jeden beliebigen anderen Wert zwischen 0 und 1, wobei etwa mA(x) = 0.2 eine geringere Zugehörigkeit des Elements x zur Menge A anzeigt, als mA(x) = 0.8. (B. Rieger 1989, S. 163f.; vgl. auch ders. 1981, S. 199)

Die Menge wird "unscharf" genannt, weil die Zugehörigkeit der Elemente als graduell angesehen wird. Von ‚unscharfen Grenzen‘ ist aber bei Zadeh (1965) nicht die Rede. Die ‚Unschärfe‘ bzw. graduelle Kategorienzugehörigkeit bezieht sich auf jeweils eine einzelne Menge bzw. Mengenfunktion. Zwischen zwei "fuzzy sets" läßt sich hingegen sehr wohl eine ‚scharfe‘ Grenze ziehen: Zadeh kann das herkömmliche "separation theorem for ordinary convex sets" auf das Gebiet der "fuzzy sets" ausweiten und so ‚scharfe‘ Grenzen zwischen an sich ‚unscharfen‘ Mengen ziehen (vgl. 1965, S. 351f.).

Eine einzelne Menge ist also weder ‚unscharf begrenzt‘ noch ‚scharf begrenzt‘, sondern ‚unscharf‘ hinsichtlich der Zugehörigkeit der Elemente. Daher läßt sich die Zugehörigkeit nur graduell bestimmen. G. Lakoff (1972) dehnte den Begriff der ‚unscharfen Menge‘ auf die Logik sprachlicher Kategorien aus (s. o. Kap. 2.2.1.1). Dabei übertrug er die Vorstellung von der graduellen Mengenzugehörigkeit auf graduelle Wahrheitswerte von Aussagen über Kategorienzugehörigkeiten und brachte diesen Gedanken mit einer Formulierung zusammen, die irrtümlicherweise eine ‚unscharfe Begrenztheit‘ sprachlicher Kategorien suggeriert: "natural language concepts have vague boundaries and fuzzy edges" (Lakoff 1972, S. 183).

Mit ‚unscharfer Begrenztheit‘ ist in der Prototypensemantik zweierlei gemeint: 1.) die Auffassung von Kategorien als "fuzzy sets" mit graduellen Zugehörigkeiten und 2.) die intensionale Vagheit der "boundaries of words and their meanings" (Labov 1973). Diese beiden Gedanken implizieren sich nicht gegenseitig. Wenn allerdings eine Kategorie intensional vage ist (weil z. B. engl. mug Objekte verschiedener Größen, mit und ohne Henkel usw. denotiert), so sind die zweifelhaften Objekte mit einem niedrigen Zugehörigkeitsgrad eher im (unscharfen) Randbereich (Vagheitsbereich) dieser Kategorie angesiedelt. Die Zugehörigkeit des Pinguins zur Kategorie VOGEL zu einem Grad von 0,4 impliziert allerdings keinesfalls, daß die Zugehörigkeit zu dieser Kategorie nicht eindeutig sei: "penguins are all 100 percent members of that category" (Lakoff 1987, S. 45; vgl. auch Geeraerts 1989, S. 596).

Vor diesem Hintergrund wird auch deutlich, warum die "erweiterte Version" der Prototypensemantik nur von prototypischen Effekten spricht und die Prototypizitätskonzeption nicht als erklärende Theorie betrachtet: G. Lakoff (1987, S 56) bemerkt graduelle Kategorienzugehörigkeit (bzw. graduelle Prototypizitätseffekte) im Fall von Kategorien wie KÖRPERGRÖSSE oder FARBE ebenso wie bei BIRD. Die intensionale Vagheit von KÖRPERGRÖSSE und FARBE kann als Ursache für den prototypischen Effekt angesehen werden, im Fall von BIRD läßt sich nur der Effekt feststellen, aber keine Ursache angeben (s. o. Kap. 2.2.2.1):

Some categories, like tall man or red, are graded; that is, they have inherent degrees of membership, fuzzy boundaries, and central members whose degree of membership (on a scale from zero to one) is one. Other categories, like bird, have clear boundaries; but within those boundaries there are graded prototype effects–some category members are better examples of the category than others. (Lakoff 1987, S. 56)

Um die naheliegende Verwechselung von ‚gradueller Kategorienzugehörigkeit‘ und ‚unscharfer Begrenzung‘ im Sinne von intensionaler Vagheit zu vermeiden, ersetzt D. Geeraerts den Terminus "degrees of category membership" durch "degrees of representativity" (vgl. 1989, S. 595).

Irreführend ist auch eine Formulierung wie die von G. Kleiber: "Die Grenzen zwischen den Kategorien bzw. Begriffen sind unscharf" (1990/1993, S. 33). Einzelne Kategorien können — die Zugehörigkeit von einzelnen Vertretern zu den jeweiligen Kategorien betreffend — sehr wohl scharf voneinander abgegrenzt sein, wenngleich Vagheitsbereiche ‚benachbarter‘ Kategorien im Fall von intensionaler Vagheit sich überschneiden können, wie z. B. in Labovs Beispiel die von cup, mug und vase (vgl. ders. 1973; s. o. Kap. 2.2.1.1).

 

Next: how shall we define the whale, by his obvious externals, so as conspicuously to label him for all time to come? To be short, then, a whale is a spouting fish with a horizontal tail. There you have him. However contracted, that definition is the result of expanded meditation.

 

4 Diskussion

4.1 Tradition, Fortschritt und die "Roschian revolution"

Die Prototypensemantik versteht sich als Alternative zum klassischen Merkmalsansatz, das heißt, sie erhebt den Anspruch, das vorherrschende Paradigma durch neue Lösungsvorschläge zu bisher nicht erkannten bzw. nicht gelösten Problemen abzulösen. Im folgenden soll untersucht werden, wie originell einzelne Grundgedanken der Prototypensemantik tatsächlich sind. Zu diesem Zweck sollen exemplarisch die Wege einiger weniger Grundgedanken der Prototypensemantik, die als Neuerung gegenüber der Merkmalssemantik intendiert waren, nachgezeichnet werden.

E. Roschs Ausgangspunkt ist die Untersuchung der Farbwörter von B. Berlin und P. Kay (1969; s. o. Kap. 2.2.1.1). Berlin und Kay hatten gezeigt, daß im kontinuierlichen Farbspektrum bestimmte Töne, sogenannte "focal colors", für die Wahrnehmung und Benennung der Farben eine wichtigere Rolle spielen als andere. Für den Bereich der geometrischen Formen beruft sich Rosch z. B. auf die Gestaltpsychologie (vgl. z. B. Rosch 1973b, S. 114). Die Grundidee von ‚besseren‘ und ‚schlechteren‘ Vertretern bestimmter Kategorien ist also keine originäre ‚Erfindung‘ der Prototypensemantik.

W. Labov brachte (1973) den Begriff ‚Vagheit‘ in die Diskussion. Sein ‚Vagheits‘-Begriff orientierte sich an dem des Philosophen Max Black (vgl. ders. 1949; s. o. Kap. 2.2.1.1). Die ‚Vagheits‘-Idee in die (linguistische) Semantik eingeführt zu haben, kann aber auch nicht als eigentliches Verdienst der Prototypensemantik angesehen werden. Schon in S. Ullmanns Klassiker "The Principles of Semantics" (1951/1957, S. 92—96) taucht der Begriff auf, 1962 liefert Ullmann unter der Kapitelüberschrift "Words with Blurred Edges" eine gründliche Klassifikation verschiedener Vagheitstypen (vgl. ders. 1962, S. 118—128), deren Niveau an Differenziertheit in der Prototypensemantik nicht erreicht wird. In diesem Zusammenhang bemüht Ullmann auch zur Erklärung des Zusammenhalts verschiedenartiger Elemente, die unter eine Kategorie fallen, den Terminus "family resemblances" unter Berufung auf Wittgensteins Beispiel von der Ähnlichkeit zwischen verschiedenen Spielen (1962, S. 118). Die ‚Entdeckung‘ dieses Gedankens und seine Anwendung auf das Gebiet der lexikalischen Semantik ist also auch keine originäre Neuerung der Prototypensemantik. T. Givón hat untersucht, inwiefern L. Wittgenstein, dessen Werk auf zahlreiche Gebiete der Sprachwissenschaft inspirierend wirkte, auch noch als "father of prototypes" (Givón 1986, S. 81) gelten kann. Zu diesem Zweck führt Givón eine Vielzahl von Stellen aus den "Philosophischen Untersuchungen" an, die sich "– with laxity –" durchaus in dieser Hinsicht interpretieren lassen, bei genauerer Betrachtung in ihrem jeweiligen Kontext aber doch nicht zu einer "interpretation of Wittgenstein as an explicit prototype theorist" taugen (S. 87):

If one indeed is intent on proving Wittgenstein to be the bellweather [sic] of prototype semantics, then by interpreting the preceeding passages with extreme charity, and then allowing for a Wittgensteinean paucity of explicit boundaries, one could indeed torture these passages into meaning what one wants them to mean. In one sense, Wittgenstein has already in fact been pressed into service in such a pioneering role, simply by virtue of Rosch having been inspired by his anti-platonic concept of "family resemblance" to formulate her prototype semantics in the first place. But to do justice to Wittgenstein’s spirit, one must also add that this interpretation of Wittgenstein merely illustrates, once again, how meaning is – for all practical purposes – a product of the way you press it into use. (1986, S. 89f.)

Gerade die ‚interdisziplinäre Lektüre‘ von Klassikern der Philosophie gelangt gelegentlich zu Einsichten von erstaunlicher Beliebigkeit. B. Rieger (1981) bemerkt z. B., daß "das von Kant in der ‘Kritik der reinen Vernunft’ (1781/1787) entwikkelte Konzept des Schemas […] für die rekonstruktiven Ansätze fast der gesamten kognitionstheoretischen Forschung zu einem sie verbindenden Strukturbegriff geworden" (S. 104) ist. Kants "kognitionstheoretisch hochaktueller Schema-Begriff" (S. 32) verändert sich aber in der Anwendung der Kognitionstheorie zu einem ‚Schema‘-Begriff, "der sich kaum noch auf die ursprüngliche Begriffsbildung bei Kant zurückführen läßt" (Rieger 1981, S. 144). Das wertet Rieger als Indiz für "die Entwicklung […], die im Bereich der Kognitionstheorie stattgefunden hat" (ebd.). Man könnte aber auch einfach sagen, daß der ‚Schema‘-Begriff der Kognitionswissenschaft schlicht ein anderer ist als der Kants [28].

Ch. Fillmore (1975, S. 123f.) führt als Quellen für seinen ‚Prototypen‘-Begriff nicht nur die unmittelbar auf B. Berlin und P. Kay zurückgehende Tradition an, die als prominentesten Vertreter den Ansatz von E. Rosch hervorgebracht hat, sondern auch noch zahlreiche weitere Arbeiten aus dem Bereich der Philosophie und der Beschäftigung mit ‚künstlicher Intelligenz‘. Das Konzept der "Frames" speist sich nach seinen Angaben u. a. aus dem psychologischen ‚Schema‘-Begriff. Darüber hinaus sieht er eine Verwandtschaft der "Frame"-Konzeption mit den Arbeiten der "European semantic field theorists" (a. a. O., S. 124; vgl. auch ders. 1985, S. 226—228 und ders. 1977a, S. 130f.). Diese "associative relation" (Fillmore 1975, S. 124) ist allerdings, zumindest was den zugrundeliegenden ‚Wortfeld‘-Begriff angeht, terminologisch nicht besonders reflektiert (vgl. Herbermann 1995b, S. 287). G. Lakoff (1987, S. 21) sieht Fillmores "Frames" hingegen in J. L. Austins Aufsatz "The Meaning of a Word" von 1940 präfiguriert.

Für D. Geeraerts stellt dagegen die Prototypensemantik zu einem Großteil eine Wiederbelebung prästrukturalistischen Gedankenguts (1989, S. 608, Fußn. 9) dar:

As a theory about the (radial, clustered, dynamically flexible) structure of polysemy, prototype theory is to a considerable extent a rediscovery of views that were paramount during the prestructuralist era of the development of lexical semantics, and that lingered on below the surface in the structuralist and transformationalist periods.

Mit etwas Phantasie könnte man auch H. Gipper als den Erfinder der Prototypensemantik ansehen: Die empirische Untersuchung (1959), welche Objekte Stuhl und welche Sessel genannt werden, erinnert nicht nur hinsichtlich der Versuchsanordnung (vgl. S. 277) an W. Labov (1973); die festgestellten Abweichungen der Probanden hinsichtlich der Wahl der Bezeichnung lassen sich auch als ‚Vagheitszone‘ interpretieren, die von Gipper — der sich übrigens deutlichst von der Prototypensemantik distanziert (1998, pers. Gespräch) — postulierten "Grundvorstellungen" erinnern entfernt an ein Prototypizitätskonzept: "Man darf nach dem heutigen Sprachempfinden mit bestimmten ‚Grundvorstellungen‘ rechnen, wie ein Stuhl oder ein Sessel aussehen sollte" (1959, S. 281).

Der Verweis auf den (vermeintlichen) Ursprung einer Idee kann in zweierlei Hinsicht interpretiert werden: Einerseits dient er als stützendes Argument für den Wert einer Neuerung im Sinne von bereits bewährter Güte; andererseits kann er als vorwurfsvoller Hinweis auf einen vermeintlichen Mangel an Originalität gemeint sein. Die vorangegangenen Ausführungen sollten Beispiele für beide Auffassungen geben. Es sollte aber auch gezeigt werden, daß der Verweis auf Traditionen auch stets die Gefahr einer gewissen Beliebigkeit in sich birgt. Vermeintliche Parallelen können sich als zufällige (rein ausdrucksseitige) terminologische Übereinstimmungen entpuppen. Des weiteren kann genuine Originalität im Sinn einer Neuschöpfung nicht der (einzige) Maßstab für Fortschritt in der Theoriebildung sein. Ideen aus benachbarten Disziplinen für die Linguistik fruchtbar zu machen, war schon immer ein gängiges Verfahren zur Bereicherung der linguistischen Methodologie. Man denke z. B. an das von Darwins Evolutionslehre beeinflußte Stammbaummodell für die Verzweigung von Sprachfamilien in der historischen Sprachwissenschaft oder an die Konzeption der Seme als distinktive Bedeutungselemente in der europäischen strukturellen Semantik (s. o. Kap. 2.1.1.1) nach dem Vorbild der strukturalistischen Phonologie. In diesem Sinn kann auch die Übertragung vorhandener Ideen auf neue Anwendungsbereiche und die Wiederbelebung in Vergessenheit geratener Ideen eine ‚neue‘ Idee sein.

Die Ausweitung von Ideen, Theoremen und Terminologien vom ‚ursprünglichen‘ Anwendungsgebiet auf andere Disziplinen führt aber häufig zu Vereinfachungen und Verfälschungen (aus der Perspektive des Ursprungs), die ihrerseits in ihrem neuen Anwendungsgebiet ein ‚Eigenleben‘ entwickeln und insofern einen Fortschritt darstellen können, als sie in ihrer neuen Domäne gewinnbringend eingesetzt werden können, obwohl sie in ihrem Herkunftsbereich in der Zwischenzeit falsifiziert wurden. Einen solchen Fall stellt die (‚Standardversion‘ der) Prototypentheorie in der Linguistik dar: Die Prototypentheorie in ihrer ursprünglich revolutionären neuen Erklärung der kognitiven Repräsentationen der Kategorien durch das Prototypenkonzept hat sich als nicht haltbar erwiesen (s. o. Kap. 2.2.2). Sie hat demnach keine größere erklärende Kraft als die traditionellen Ansätze. Dennoch ist sie ein begriffliches Instrumentarium, das im Bereich der lexikalischen Semantik und bei zahlreichen anderen Fragestellungen, die Probleme der Kategorisierung betreffen, gewinnbringend eingesetzt werden kann. In diesem Sinn hält es M. Posner nach wie vor für gerechtfertigt, von dem Neuansatz als "Roschian revolution" zu sprechen (1986, S. 54):

Nonetheless I believe that the Roschian revolution is a genuine one because it was a part of a general new conceptualization of human thought in terms of bounded rationality that has important implications for psychology and the social sciences.

Im folgenden soll diskutiert werden, inwiefern sich Merkmalssemantik und Prototypensemanik hinsichtlich ihrer Leistung unterscheiden, das heißt, ob strukturelle Unterschiede und Gemeinsamkeiten der theoretischen Konstrukte zu jeweils unterschiedlichen Lösungen der Grundprobleme der lexikalischen Semantik führen, die es rechtfertigen könnten, die Prototypensemantik tatsächlich als Alternative zur Merkmalssemantik anzusehen.

 

4.2 Zirkuläre Bedeutungsbestimmungen

Die Bestimmung der Bedeutungen der lexikalischen Einheiten ist die Aufgabe einer Theorie der lexikalischen Semantik, an deren Bewältigung sich die Leistungsfähigkeit der Theorie messen lassen muß. Der Vergleich von Merkmalssemantik und Prototypensemantik oben in Kapitel 3 hat gezeigt, daß die wesentlichen Unterschiede zwischen diesen Grundkonzepten der lexikalischen Semantik in unterschiedlichen Auffassungen über das Wesen der Merkmale und der Kategorien bestehen. Hinsichtlich der Art der Bedeutungsbestimmung zeigten sich aber zwei wesentliche Übereinstimmungen: Die Bedeutungsbestimmung erfolgt 1.) mit Hilfe von semantischen Merkmalen und 2.) auf einer relationalen Grundlage, das heißt, daß eine Bedeutungsbestimmung ohne die Beschreibung von Beziehungen zwischen ‚benachbarten‘ lexikalischen Einheiten in beiden Theorien nicht möglich ist.

Aus der zweiten Gemeinsamkeiten resultiert ein schwerwiegendes Problem, das beide Theorien gleichermaßen betrifft. Das Problem besteht darin, daß beide Methoden der Bedeutungsbestimmung insofern ‚zirkuläre‘ Züge aufweisen, als Wissen vorausgesetzt wird, welches zugleich das Erkenntnisziel darstellt. Die relationale Grundlage der Bedeutungsbestimmung erfordert, daß die zu bestimmende Bedeutung sowie zahlreiche weitere Bedeutungen bekannt sind: Bevor eine lexikalische Einheit in eine bestimmte Umgebung gebracht werden kann, sei es zum Zweck der strukturalistisch-kontrastiven Bedeutungsbestimmung oder zur Bestimmung des Prototypen einer Kategorie, muß die Bedeutung dieser lexikalischen Einheit bekannt sein. Andernfalls geraten die Einheiten in eine ‚falsche Nachbarschaft‘; zur strukturalistisch-kontrastiven Bestimmung der Bedeutung von Stuhl ist es genau so wenig dienlich, Stuhl, Morgen, Liebe und Lebertran miteinander kontrastieren zu lassen, wie zur Bestimmung des Prototypen der Kategorie OBST einen Pinguin, einen Pottwal und einen Polarfuchs miteinander zu vergleichen. G. Kleiber (1990/1993, S. 14; vgl. auch ders. 1978, S. 15f.) hat dieses Problem für die Merkmalssemantik bereits formuliert:

Dem ersten Anschein nach ergeben sich die Seme durch die bloße Gegenüberstellung der Lexeme, aber tatsächlich muß man zunächst die Bedeutung der entsprechenden Lexeme kennen, bevor man sie miteinander konfrontieren kann. Anderenfalls läßt sich kein relevantes Bedeutungsmerkmal aufzeigen. Wenn ich die Bedeutungen der Altersadjektive senex und vetulus nicht kenne, die E. Coseriu (1964/78) gegenüberstellt, um die Seme "für Personen" und "für Tiere und Pflanzen" herauszuarbeiten, besteht keine hohe Wahrscheinlichkeit, daß ich sie durch diesen Vergleich erfahren werde.

(Kleiber 1990/1993, S. 14)

R. Tallis (1988, S. 73) übt mit einem ähnlichen Gedanken grundlegende Kritik an der strukturalistischen Auffassung, Bedeutung entstünde erst in Oppositionen:

It is ultimately on the basis of referential meaning that the oppositions that make up the field of a particular term are perceived. The structure cannot be seen, the contrasts cannot be observed, without the referents of the elements being known, without interpretation.

Da gezeigt werden konnte (s. o., Kap. 3.2), daß die Bedeutungsbestimmung in der Prototypensemantik ebenfalls auf einer relationalen Grundlage erfolgt, trifft der Vorwurf der Zirkularität beide Theorien gleichermaßen.

Aufgrund der strukturellen Gemeinsamkeiten der Verfahren zur Bedeutungsbestimmung kann die methodische Leistung der beiden Grundkonzepte als konkurrierende Deskriptionsansätze der lexikalischen Semantik nur gleich bewertet werden. Von Seiten der Prototypensemantik konnten allerdings Beispielanalysen vorgebracht werden, welche (zumindest für die Bereiche der jeweiligen Beispiele) die Überlegenheit des neuen Konzepts zeigten. Im folgenden soll diskutiert werden, wie die Unterschiedlichkeit der Leistung von Merkmalssemantik und Prototypensemantik als unterschiedliche Beschreibungsadäquatheit für unterschiedliche Bereiche des Lexikons aufgefaßt werden kann.

 

4.3 Anwendungsbereiche

Merkmalssemantik und Prototypensemantik stellen als Theorien der lexikalischen Semantik den Anspruch auf, eine Bedeutungsbeschreibung für das gesamte Lexikon liefern zu können. Es haben sich aber in der Anwendung bestimmte Bereiche des Lexikons als adäquater mit der einen oder der anderen Theorie beschreibbar herausgestellt. Schon die unterschiedlichen Bereiche, aus denen die (wenigen) Beispiele für die jeweiligen Ansätze gewählt sind, lassen vermuten, daß eine dieser Theorien allein möglicherweise nicht die Erklärung des gesamten Wortschatzes für sich beanspruchen kann. Mit der Methode der amerikanischen strukturellen Semantik lassen sich z. B. Verwandtschaftsterminologien völlig adäquat analysieren, wohingegen die von der Prototypensemantik angeführten Gegenbeispiele (z. B. der dreibeinige Albino-Tiger bei Putnam; s. o. Kap. 2.2.1.1) ein Problem für den ‚klassischen‘ Ansatz darstellen. Die Beschreibung der Kategorie VOGEL durch die Prototypensemantik ist ebenfalls überzeugend. Da beide Konzeptionen ihre jeweiligen Vorzüge haben, unterscheidet z. B. Ch. Schwarze verschiedene Bereiche des Lexikons, die er mit jeweils unterschiedlichen Methoden analysiert:

Die Hypothese, die ich im folgenden vertreten möchte, geht dahin, daß wir es im Lexikon mit ihrer Natur nach recht unterschiedlichen Arten von Bedeutungen zu tun haben, und daß den verschiedenen Arten von Bedeutungen verschiedene Bedeutungsbegriffe und verschiedene Analysetechniken adäquat sind.

Eine solche Hypothese scheinen übrigens auch weder Putnam noch Rosch auszuschließen. (Schwarze 1982, S. 7)

E. Rosch hält z. B. den Bereich der Verwandtschaftsterminologie für adäquat mit der Methode der Komponentialanalyse beschreibbar: "the domain on which kin terms are mapped does contain discrete attributes (e.g. sex, generational steps distant from speaker) which may be logically combined to give the formal meaning of the terms" (Rosch 1975a, S. 181). Ch. Schwarze entfaltet eine Typologie der "relationalen Bedeutungen", unter die auch der Bereich der Verwandtschaftsterminologie fällt (vgl. ders. 1982, S. 8—10). Für diese "relationalen Bedeutungen" stellt er die These auf, daß sich "einzelne Bedeutungskomponenten analytisch aus ihnen herausziehen lassen" (S. 8). Daher hält er für diesen Bereich des Lexikons wie auch für Nomenklaturen die Merkmalssemantik für die angemessene Analysemethode, während für den Rest die Stereotypensemantik besser geeignet sei:

Wir haben im Vorausgehenden die Fruchtbarkeit des Stereotypenbegriffs für die Lexikologie ohne weiteres anerkannt und die Kritik von Putnam und Rosch am Vorgehen und an den Voraussetzungen der Merkmalssemantik bzw. Komponentialanalyse nur in dem Sinne zurückgewiesen, daß wir Stereotypensemantik und Merkmalssemantik als komplementär betrachten. (Schwarze 1982, S. 11)

Auch G. Kleiber diskutiert (1990/1993, S. 91—101) einige weitere "geeignete und weniger geeignete Anwendungsbereiche" für die Prototypensemantik.

 

 

4.4 Zusammenfassung: Anspruch und Leistung zweier Grundkonzepte der lexikalischen Semantik

Im vorangehenden wurde die These vertreten, daß Merkmalssemantik und Prototypensemantik in den wesentlichen Grundzügen als Methoden der Bedeutungsbestimmung übereinstimmen: Beide Konzepte leisten eine Bedeutungsbestimmung mit Hilfe von Merkmalen, und zwar auf der Grundlage von Relationen zwischen ‚benachbarten‘ lexikalischen Einheiten. Diese Gemeinsamkeiten stellen für beide Konzepte gleichermaßen ein Problem dar, da die jeweiligen Verfahren zur Bedeutungsbestimmung zirkulärer Art sind: Die Kenntnis der Bedeutung einer lexikalischen Einheit, die das Erkenntnisziel einer Theorie der Bedeutungsbestimmung ist, ist gleichzeitig eine Voraussetzung für einzelne Schritte in den Verfahren zur Bedeutungsbestimmung in beiden Konzeptionen. In dieser Hinsicht können Merkmalssemantik und Prototypensemantik als gleichwertig angesehen werden. Mögliche Alternativen zu beiden Theorien können im Rahmen der vorliegenden Arbeit nicht erörtert werden.

Es konnte gezeigt werden, daß die Prototypensemantik trotz ihrer Herkunft aus der empirischen Kognitionspsychologie den Beweis für ihre Grundthesen schuldig geblieben ist. [29] Die ursprüngliche auf E. Rosch zurückgehende Prototypenkonzeption hat nach deren eigenem Verständnis keine erklärende, sondern lediglich beschreibende Kraft. Insofern stellt auch die Anwendung der Prototypizitätskonzeption auf die Probleme der lexikalischen Semantik keine wirklich neue Bedeutungstheorie dar, sondern eine neue Formulierung. Als eine neue Metasprache, ein begriffliches Instrumentarium ("way of talking") versteht z. B. Ch. Fillmore seine Beiträge (ders. 1976, S. 20; vgl. auch ders. 1975, S. 125). Die Leistung von Merkmalssemantik und Prototypensemantik kann also nur an der Adäquatheit der Beschreibung von Bedeutungen gemessen werden.

Die (m. E. berechtigte) Kritik der Prototypensemantik an dem strengen definitorischen ‚Merkmals‘-Begriff und der Kategorisierungskonzeption der Merkmalssemantik zeigt, daß der Anspruch der Merkmalssemantik, eine Theorie der Bedeutungsbestimmung für das gesamte Lexikon zu sein, nicht aufrecht erhalten werden kann. Gleichzeitig folgt aber daraus, daß es Bereiche im Lexikon gibt, die durch die Merkmalssemantik nicht adäquat beschreibbar sind, nicht notwendigerweise, daß die Merkmalssemantik insgesamt aufgegeben werden müsse. Insofern ist der Anspruch der Prototypensemantik, eine Alternative zur Merkmalssemantik darzustellen, zu spezifizieren: Die Prototypensemantik stellt keine exklusive Alternative zur Merkmalssemantik dar, sondern eine ergänzende.

Schon im Rahmen der Kritik am Postulat der Ubiquität des Felds in der ursprünglichen Wortfeldkonzeption Trierscher Prägung (vgl. Herbermann 1995b, S. 265) stellt C.—P. Herbermann die Inadäquatheit jeglicher Ausschließlichkeitsansprüche semantischer Theorien fest:

Gerade in der Semantik sind konzeptions- oder modellbezogene Ausschließlichkeitsansprüche, wie sie immer wieder erhoben worden sind — sei es unter strukturalistischen oder unter poststrukturalistischen Vorzeichen — durchaus unangebracht. Für die lexikalische Semantik zumal dürfte gelten, daß sie ihrem Gegenstandsbereich nur gerecht wird, wenn sie sich ihm unter komplementärer Verwendung einer Vielzahl von Modellen und Konzeptionen annähert. (Herbermann 1995b, S. 288)

In diesem Sinn wollen wir für einen Methodenpluralismus plädieren, der für verschiedene Anwendungsbereiche verschiedene Methoden nebeneinander als gleichberechtigt anerkennt. Dies kann z. B. nach dem Vorbild der komplementären Verwendung von Merkmalssemantik und Prototypensemantik für verschiedene Wortschatzausschnitte bei Ch. Schwarze (1982, s. o. Kap. 4.3) geschehen. Methodenpluralismus darf aber nicht zu Aufgabe der methodischen Schärfe führen, wie z. B. die folgende Formulierung von U. Hoinkes es vermuten läßt:

Unsere Beispielanalyse des Wortfelds der Sitzgelegenheiten hat vielmehr deutlich gemacht, daß eine modern verstandene strukturelle Linguistik durchaus für die Integration ergänzender Beschreibungsmethoden offen ist. Wie weit sich diese jedoch von der Axiomatik strukturalistischen Denkens entfernen dürfen, bleibt in der weiteren Forschung noch zu klären. (Hoinkes 1995, S. 328)

Das von Hoinkes vorgebrachte Plädoyer für den Methodenpluralismus läßt vermuten, daß ihm eher eine "hybrid theory" vorschwebt, als ein wirkliches Nebeneinander unterschiedlicher Ansätze. So würde durch den Verlust methodologischer Schärfe eine "der Axiomatik strukturalistischen Denkens" verpflichtete Semantik geschaffen, die sich mit jedem weiteren von der Prototypensemantik vorgebrachten Gegenbeispiel notgedrungen zaghaft ein wenig von dieser Axiomatik entfernt.

Uns schwebt aber eine Form des Methodenpluralismus vor, die nicht zum Verlust der methodologischen Schärfe der einzelnen Theorien führt. Dazu sollten sowohl die Abgrenzung der beiden Theorien voneinander als auch die ihrer jeweiligen Anwendungsbereiche präzisiert werden. Dann bleibt zu überprüfen, ob es möglicherweise Bereiche des Lexikons gibt, die durch keines der beiden Konzepte befriedigend beschrieben werden können.

 

 

 

 

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6 Endnoten

[1] Vgl. Battig & Montague 1969, S. 40; s. u. Kap. 2.2.1.1.

[2] Im folgenden wird allgemein von ‚lexikalischen Einheiten‘ die Rede sein, worunter mit Rekurs auf den auf F. de Saussure zurückgehenden Begriff des sprachlichen Zeichens eine Verbindung genau eines bestimmten Ausdrucks mit genau einem bestimmten Inhalt verstanden wird (vgl. z. B. C.-P. Herbermann 1995a, S. 169). Werden die Termini ‚Wort‘, ‚Lexem‘, ‚Lexie‘ etc. verwendet, so handelt es sich um eine unkritische Übernahme der in der jeweils besprochenen Literatur verwendeten Termini, denen das Verständnis der jeweils besprochenen Autoren zugrunde liegt.

[3] Vgl. Heringer 1968, S. 227; s. u. Kap. 2.1.1.1.

[4] Vgl. Rosch 1973b, S. 133; s. u. Kap. 2.2.1.1.

[5] Auf die ungewöhnliche Verwendung von "diskontinuierlich" und "intransitiv" sei hier lediglich hingewiesen.

[6] Das bedeutet im vorliegenden Beispiel schlicht: Ein Sofa ist zum Liegen nur für eine Person gedacht, bei Benutzung durch mehrere Personen müssen diese sitzen, können sich aber dann anlehnen.

[7] Nida (1951, S. 6): "A seme may be defined as (1) the meaning in a particular type of context of (a) a morpheme or (b) a formal part of a morpheme, or (2) a meaning implicit in the forms of a paradigmatic series. Semes of type 1 are overtly symbolized and those of type 2 are covertly indicated."

[8] Vgl. Goodenoughs Lexemdefinition (a. a. O. S. 199): "Any utterance whose signification does not follow from the signification and arrangement of its parts we shall hereinafter call a lexeme."

[9] Diese Liste umfaßt: "(1) differences of generation; (2) the difference between lineal and collateral kinsmen, and, we should add, differences between kinsmen of varying degrees of collaterality; (3) differences of age within one generation; (4) sex of kinsman; (5) sex of ego; (6) sex of linking kinsman; (7) the difference between consanguineal and affinal relationships; and (8) the condition, living or deceased, of the linking kinsman" (zit. nach Lounsbury 1956, S. 168).

[10] In den Sprachen des nach diesem Phänomen benannten Crow-Typs kann auf den Sohn einer Schwester des Vaters des Egos mit demselben Lexem referiert werden wie auf den Vater, während auf die Tochter der Schwester des Vaters mit demselben Lexem referiert wird wie auf die Großmutter (vgl. Lounsbury 1964, S. 1089).

[11] Die Regeln innerhalb der Komponentialanalyse sind allerdings — im Gegensatz zu denen der generativ-transformationellen Grammatik — weder generative noch transformationelle, sondern rein interpretative Regeln.

[12] Für die exakte Formulierung der Regel s. Katz & Fodor 1963, S. 198.

[13] Neben dieser These wird gleichberechtigt bei der Formulierung der Ziele der Untersuchung am Anfang der Arbeit eine zweite aufgestellt, nämlich die, daß die Kategorien nicht klar begrenzt seien: "It is the contention of the present paper that most ‚real‘ categories are highly structured internally and do not have well defined boundaries" (Rosch 1973b, S. 112). Dieser Gedanke wird aber im Verlauf der Argumentation nicht weiter verfolgt und taucht auch im abschließenden summary (vgl. S. 143f.) nicht wieder auf. Wohl wird bemerkt, daß die bisherige Semantik die interne Struktur der Kategorien nicht wahrgenommen hat, da sie sich ausschließlich auf die exakte Abgrenzung der Kategorien untereinander konzentriert habe (vgl. S. 143). Daraus aber den Schluß zu ziehen, intern strukturierte Kategorien könnten keine wohl definierten Grenzen haben, ist m. E. nicht zulässig. Nichtsdestotrotz gehört die Vorstellung von der unscharfen Begrenzung der Kategorien zu den Grundgedanken der Prototypentheorie (s. u. Kap. 2.2.1.2 und 3.4.1).

[14] Da die Kategorien FRUIT und BIRD als Beispiele im weiteren Verlauf der vorliegenden Arbeit noch häufiger auftauchen werden, sei an dieser Stelle zum Vergleich die Liste der bei Battig & Montague (1969) auf den Seiten 14 und 29 darunter genannten Vertreter in der Reihenfolge ihrer Frequenz gegeben (Vertreter, die von weniger als zehn Personen genannt wurden, tauchen in der Reihung nicht auf):

A FRUIT: 1. apple, 2. orange, 3. pear, 4. banana, 5. peach, 6. grape, 7. cherry, 8. plum, 9. grapefruit, 10. lemon, 11. tangerine, 12. apricot, 13. pineapple, 14. lime, 15. tomato, 16. strawberry, 17. watermelon, 18. prunes, 19. cantalope, 20. raspberry, 21. pomegranate, 22. blueberry, 23. mango, 24. avocado, 25. fig, 26. raisin, 27. coconut, 28. nectarine, 29. berry, 30. melon, 31. kumquat.

A BIRD: 1. robin, 2. sparrow, 3. cardinal, 4. blue jay, 5. eagle, 6. crow, 7. bluebird, 8. canary, 9. parrakeet, 10. hawk, 11. blackbird, 12. wren, 13. oriole, 14. parrot, 15. pigeon, 16. hummingbird, 17. starling, 18. woodpecker, 19. vulture, 20. swallow, 21. chicken, 22. dove, 23. duck, 24. owl, 25. redbird, 26. sea gull, 27. thrush, 28. falcon, 29. jay, 30. pheasant, 31. finch, 32. mockingbird, 33. buzzard, 34. ostrich, 35. flamingo, 36. lark, 37. peacock, 38. turkey, 39. penguin, 40. purple martin, 41. raven, 42. swan, 43. crane, 44. geese, 45. chickadee, 46. pelican, 47. stork, 48. warbler.

[15] Diese Versuchsanordnung erlaubt allerdings meines Erachtens keine Aussage darüber, ob die semantischen Kategorien (ebenso wie die perzeptuellen) strukturiert sind, da sie diese Hypothese bereits als Voraussetzung enthält. In den Instruktionen wurden die Probanden sogar explizit auf diese These eingeschworen: "In short, some reds are redder than others. The same is true for other kinds of categories. Think of dogs. You all have some notion of what a ‚real dog‘ is" (Rosch 1973b, S. 131). Die Probanden — "summer school students in an introductory psychology class" (ebd.) — dürften die plausibel dargelegte Hypothese unkritisch als eine Erkenntnis der Psychologie absorbiert und zur Prämisse ihrer Beurteilung gemacht haben. Im Gegensatz zu den Dani, die immerhin auf die Frage, welche Farbe die typischste einer Kategorie sei, mit Unverständnis reagieren konnten, waren diese Probanden also gar nicht in der Lage, die Hypothese von der Strukturiertheit semantischer Kategorien nicht anzunehmen. Einer Auswertung der Ergebnisse ist also die folgende stets implizite Prämisse voranzustellen: Wenn wir uns vorstellen, daß semantische Kategorien überhaupt ‚bessere‘ und ‚schlechtere‘ Vertreter enthalten, so sind die getesteten Vertreter je nach ihrem "‚exemplariness‘ rank" mehr oder weniger gute Kandidaten für eine solche Position.

[16] Rosch bezieht sich in dieser Frage auf ihre Veröffentlichungen (1975a) und (1975c). In (1975a) beruft sie sich lediglich auf die ältere Arbeit (1973b), auf deren Grundlage diese These meines Erachtens eben nicht als erwiesen angesehen werden kann (s. o.). Der andere Aufsatz (1975c; s. u.) kann m. E. ebenfalls nicht den Beweis erbringen, da er dieselben gravierenden Mängel in der Argumentation aufweist wie (1973b).

[17] Auch der Wortlaut der Instruktionen für die Probanden stimmt mit dem des in Rosch (1973b) beschriebenen Experiments an den oben kritisierten Stellen überein.

[18] Zur Illustration seien hier die Sätze 66 und 67 der "Philosophischen Untersuchungen" (Wittgenstein 1953/1958, S. 31f.) vollständig wiedergegeben:

66. Betrachte z.B. einmal die Vorgänge, die wir "Spiele" nennen. Ich meine Brettspiele, Kartenspiele, Ballspiele, Kampfspiele, u.s.w. . Was ist allen diesen gemeinsam?–Sag nicht: "Es muß ihnen etwas gemeinsam sein, sonst hießen sie nicht ‘Spiele’ "–sondern schau, ob ihnen allen etwas gemeinsam ist.–Denn, wenn du sie anschaust, wirst du zwar nicht etwas sehen, was allen gemeinsam wäre, aber du wirst Ähnlichkeiten, Verwandtschaften, sehen, und zwar eine ganze Reihe. Wie gesagt: denk nicht, sondern schau!–Schau z.B. die Brettspiele an, mit ihren mannigfachen Verwandtschaften. Nun geh zu den Kartenspielen über: hier findest du viele Entsprechungen mit jener ersten Klasse, aber viele gemeinsame Züge verschwinden, andere treten auf. Wenn wir nun zu den Ballspielen übergehen, so bleibt manches Gemeinsame erhalten, aber vieles geht verloren.–Sind sie alle ‘unterhaltend’? Vergleiche Schach mit dem Mühlfahren. Oder gibt es überall ein Gewinnen und Verlieren, oder eine Konkurrenz der Spielenden? Denk an die Patiencen. In den Ballspielen gibt es Gewinnen und Verlieren; aber wenn ein Kind den Ball an die Wand wirft und wieder auffängt, so ist dieser Zug verschwunden. Schau, welche Rolle Geschick und Glück spielen. Und wie verschieden ist Geschick im Schachspiel und Geschick im Tennisspiel. Denk nun an die Reigenspiele: Hier ist das Element der Unterhaltung, aber wie viele der anderen Charakterzüge sind verschwunden! Und so können wir durch die vielen, vielen anderen Gruppen von Spielen gehen. Ähnlichkeiten auftauchen und verschwinden sehen.

Und das Ergebnis dieser Betrachtung lautet nun: Wir sehen ein kompliziertes Netz von Ähnlichkeiten, die einander übergreifen und kreuzen. Ähnlichkeiten im Großen und Kleinen.

67. Ich kann diese Ähnlichkeiten nicht besser charakterisieren, als durch das Wort "Familienähnlichkeiten"; denn so übergreifen und kreuzen sich die verschiedenen Ähnlichkeiten, die zwischen den Gliedern einer Familie bestehen: Wuchs, Gesichtszüge, Augenfarbe, Gang, Temperament, etc. etc..–Und ich werde sagen: die ‘Spiele’ bilden eine Familie.

[19] Es haben aber nicht nur fast, sondern tatsächlich alle Vögel Federn. Mit Ausnahme der Spechte, Kormorane und Sperlinge kommen auch alle Vögel bereits gefiedert auf die Welt. Die Jungvögel dieser Arten können aber genau so wenig als Gegenbeispiel dienen, wie man Säuglinge ernsthaft als Argument gegen die Behauptung anführen kann, daß der Mensch auf zwei Beinen geht. Vögel ohne Federn gibt es m. E. ausschließlich in der Kategorie GAUMENFREUDEN. Das zitierte Beispiel ist aber offenbar weder ornitholigisch noch kulinarisch motiviert.

[20] Die Instruktionen für die Probanden zu diesem Experiment setzen die Prämisse der Existenz von Merkmalen als gegeben voraus: "For dogs you might think of things they have in common like having four legs, barking, having fur, etc." (Rosch & Mervis 1975, S. 578). Strenggenommen kann es also nicht als experimentell erwiesen gelten, daß die untersuchten Elemente überhaupt als merkmalhaltig anzusehen sind. Auch in späteren Arbeiten Roschs wird dieser Beweis nicht erbracht.

[21] Fillmores Terminologie hinsichtlich der Begriffe "scene" und "frame" weicht in den wiedergegebenen Arbeiten zum Teil erheblich voneinander ab (vgl. ders. 1977a, S. 127). Im folgenden werden "Szene" und "Rahmen" verwendet, um anzuzeigen, daß Fillmore an diesen Stellen "scene" und "frame" im Sinne der 1975er Definition durch abweichende Termini ersetzt hat.

[22] Vgl. ders. 1977a, S. 84: "Meanings are relativized to scenes."

[23] Als Indiz dafür kann z. B. angesehen werden, daß die beiden gängigsten deutschsprachigen linguistischen Wörterbücher unter dem Stichwort ‚Prototyp‘ nur einen Verweis auf ‚Stererotyp‘ bzw. ‚Stereotypensemantik‘ liefern. Unter diesen Lemmata werden dann sowohl der Ansatz von H. Putnam als auch der von E. Rosch verhandelt (vgl. H. Bußmann 1990, S. 618 und S. 735f., Th. Lewandowski 1990, S. 846 und S. 1097—1099).

[24] In einer späteren Veröffentlichung (ders. 1985, S. 78) findet sich eine vereinfachte Version dieser Unterscheidung: "Nous appelons prototype l’object qui est le meilleur exemplaire d’une catégorie, et stéréotype le concept qui le décrit." Vgl. auch Kleiber 1990/1993, S. 40f.

[25] Die gleichen Gedanken verteilen sich nach Kleibers Darstellung auf sechs Grundthesen (ders. 1990/1993, S. 33f.):

1. Eine Kategorie hat eine prototypische innere Struktur.

2. Der Repräsentativitätsgrad eines Exemplars entspricht dem Grad seiner Zugehörigkeit zur Kategorie.

3. Die Grenzen zwischen den Kategorien bzw. Begriffen sind unscharf.

4. Die Vertreter einer Kategorie verfügen nicht über Eigenschaften, die allen Vertretern gemeinsam sind; sie werden durch eine Familienähnlichkeit zusammengehalten.

5. Die Zugehörigkeit zu einer Kategorie ergibt sich aus dem Grad der Ähnlichkeit mit dem Prototyp.

6. Über diese Zugehörigkeit wird nicht analytisch, sondern global entschieden.

[26] Der Irrglaube, es gäbe Vögel ohne Federn, ist unter Prototypensemantikern offenbar weit verbreitet. Ein wirkliches Desiderat stellt die prototypensemantische Untersuchung des Worts Feder dar, bzw. eine Antwort auf die Frage, wie die Garderobe der Pinguine und Kiwis (vorwissenschaftlich) genannt wird. Wenn nicht ernsthaft jemand behauptete, der Pinguin trage einen Pelzmantel oder sei dazu verdammt, sein ohnehin trostloses antarktisches Dasein nackt zu fristen, läßt sich einfach keine plausible Alternative zu ‘having feathers’ denken. Unplausibel ist auch die Annahme, Pinguin wäre nur ein anderer Name für den Kiwi im Urlaub, der es sich aufgrund des notorisch schönen Wetters in seiner Heimat Neuseeland leisten kann, im Adamskostüm zu gehen, sich aus Angst vor der asiatischen Hühnergrippe in seiner Sommerfrische am Südpol aber lieber etwas überzieht, denn das Kleid des Pinguins hat Ärmel, die der Kiwi ja gar nicht braucht.

Zum großen Erstaunen des Verfassers der vorliegenden Arbeit ergab eine nicht-repräsentative Umfrage im Bekanntenkreis: Es gibt tatsächlich Menschen, die glauben, Pinguine hätten ein Fell! Auf die Frage Haben Pinguine Federn? antworteten 17 mittelalte mitteleuropäische Durchschnittsmenschen mit ja, einer mit weiß nicht und 8 mit nein, von denen 7 den Pinguin für pelztragend und eine tatsächlich für nackt hielt. Donnerwetter.

[27] Als Indiz dafür kann z. B. gelten, daß sogar die Schreibweise des Begriffs uneinheitlich ist: vgl. Lewandowski 1990, S. 706: "Merkmalsemantik".

[28] Zum ‚Schema‘-Begriff Kants vgl. ders. 1781/1787, S. 240—243. Zum ‚Schema‘-Begriff in der Kognitionswissenschaft vgl. M. Schwarz 1992, S. 87—90.

[29] Die Grundthese der Prototypensemantik von der internen Strukturiertheit natürlicher Kategorien, d. h. von der Unterscheidung ‚besserer‘ und ‚schlechterer‘ Exemplare, ist möglicherweise deshalb so schwer zu beweisen, weil sie so offensichtlich wahr ist. Die kritische Beurteilung der Versuchsanordnungen von E. Rosch sollten die Grundthesen nicht als falsch hinstellen, sondern nur als nicht bewiesen.

 

 

 

Finally: It was stated at the outset, that this system would not be here, and at once, perfected. You cannot but plainly see that I have kept my word. But I now leave my cetological System standing thus unfinished, even as the great Cathedral of Cologne was left, with the crane still standing upon the top of the uncompleted tower. For small erections may be finished by their first architects; grand ones, true ones, ever leave the copestone to posterity. God keep me from ever completing anything. This whole book is but a draught–nay, but the draught of a draught. Oh, Time, Strength, Cash, and Patience!

Herman Melville, Moby-Dick or The Whale





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